Margrith Lin

Ein Bruder lebenslänglich


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als dessen Frau an Krebs erkrankt war. Sie verstarb bald nach der Geburt des jüngsten Sohnes. Der Onkel musste nun allein mit vier kleinen Buben zurechtkommen. In dem Betrieb, wo er als Magaziner und Chauffeur arbeitete, fand er eine um zwanzig Jahre ältere Kollegin, welche ihm eine gute Ehefrau und den vier Waisenknaben eine hingebende Mutter wurde. Auch wir liebten diese Tante wegen ihres herzlichen Lachens, vor allem aber, weil sie für uns immer die geblümte Blechbüchse mit den Keksen bereithielt, wenn wir ihr etwas ausrichten kamen. Wir waren damals die Einzigen im Haus, die ein Telefon besassen. Oft hatte die Tante wässrige Augen in Sorge um ihren Mann, wenn er sich unterwegs verspätete. Doch wenn wir mit der ersehnten guten Nachricht bei ihr aufwarteten, strahlte sie wieder über ihr ganzes liebes Vollmondgesicht.

      So lebten wir als Grossfamilie unter einem Dach. Obwohl unsere Eltern eigentlich lieber allein für sich gewohnt hätten, so wurde die Unterstützung durch die Verwandten für unsere Familie doch sehr wichtig.

      Meine wichtigste Bezugsperson damals aber war unser Dienstmädchen Maria. Maria kam als junges Mädchen von vierzehn Jahren direkt nach Schulaustritt zu uns. Ihr Vater war kurz davor ganz plötzlich verstorben, und so musste Maria für die Familie mitverdienen. Während der Abwesenheit der Eltern schaute sie jeweils zu uns.

      Wir haben ein Brüderchen bekommen

      Der Stammhalter

      Eines Morgens war Mama wieder weg. Am Mittag brachte Papa die freudige Botschaft nach Hause, dass uns der liebe Gott ein Brüderchen geschenkt habe. Ich verstand nicht, warum Mama deshalb im Spital bleiben musste. Auf meine Fragen erfuhr ich von meinen ­beiden älteren Schwestern, dass der liebe Gott die Kinder ganz nackt auf die Welt schicke. Das konnte doch nicht wahr sein! Nacktheit war verpönt, war sündhaft. So wurde es mir von meinen älteren Schwestern beigebracht, wenn ich mich beim Zubettgehen splitternackt auszog und es auch noch genoss.

      Am Sonntag durften wir Mama im Spital besuchen. Sie hielt das Brüderchen in den Armen. Es war nun in ein Wolljäckchen gehüllt und in ein hellblaues Flanelltuch eingewickelt. Es sah sehr zart aus mit seinen rötlichblonden Haaren, den himmelblauen Augen und der hellen Haut, so anders als wir drei Schwestern. Ausser der Grossmutter väterlicherseits hatte niemand von uns solche Augen, und als wir den Bruder später fragten, woher er denn die schönen blauen Augen hatte, antwortete er: «Vom lieben Gott.» Wenn er lachte, hatte er zwei kleine herzige Grübchen in den Wangen, genau wie sein Patenonkel, ein jüngerer Bruder des Vaters. Wir Schwestern ­waren ganz anders, dunkelhaarig und braunäugig. Meine Haut wurde ­zudem sehr schnell dunkel, wenn ich nur ein wenig an der Sonne war. Und da ich noch einen Sprachfehler hatte und nur schwer verständlich sprach, wurde ich oft «Tschinggeli» gerufen.

      Nach drei Mädchen wurde endlich der Sohn geboren. «Als glück­liche Eltern melden wir neuen Familienzuwachs», stand in der Geburtsanzeige. Ausser dem Namen liess nichts darauf schliessen, dass es nun endlich ein Junge war. Unsere Eltern wollten von der Geburt ihres Sohnes nicht so viel Aufhebens machen. Sie versicherten uns, dass es ihnen nicht drauf ankomme, ob Bub oder Mädchen: Hauptsache das Kind sei gesund.

      Doch der Pöstler brachte dreimal täglich – so oft kam die Post da­­mals – eine bunte Menge von Gratulationskarten mit Sprüchen und Segenswünschen für den Stammhalter, der sich nach drei Mädchen nun endlich eingestellt hatte. «Es haben es natürlich nicht alle so schön, dass der Kronprinz gleich drei fertige Kindermädchen vorfin­det», stand auf der Karte eines Grossonkels. So war die Aufgabe von uns drei älteren Schwestern bereits vorgegeben.

      Vom Glückwunsch eines Künstlers aus Wien, den die Eltern in der Nachkriegszeit mit «Liebesgaben-Paketen» unterstützten, ist mir vor allem das Bild der «Huldigung» in Erinnerung geblieben, ein fettes, in der Mitte thronendes Baby wird von den drei Schwestern und den glücklichen Eltern umtanzt. Da unser Vater der Einzige seiner Familie war, der selbst eine Familie gegründet hatte, so war unser Bruder nun der einzige männliche Nachkomme, der den Familienstamm weiterführen konnte. Er erhielt den gleichen Vornamen wie der Vater und war nun bereits in der vierten Generation Träger dieses Namens.

      Bei meiner Geburt gratulierten die Leute meinen Eltern zum «Dreimädelhaus», wohl um etwas davon abzulenken, dass es wieder nur ein Mädchen war. Bereits meine Geburtsanzeige wies darauf hin, dass es nach zwei Mädchen eigentlich nun Zeit für einen Buben war. Der Vater entwarf die Anzeigen jeweils selbst nach Vorlagen, die er den beliebten Zeichenbüchlein von Hans Witzig entnahm. Auf meiner Anzeige waren zwei grössere Mädchen zu sehen, welche das jüngste Geschwister hinter sich herzogen. Es war nicht zu über­sehen, dass das jüngste Geschwister eigentlich kurze Hosen trug. Der Vater hatte diese kurzfristig in einen Rock retouchiert. Auch die Mutter war offenbar überzeugt, dass es nun ein Bub werden würde. Sie wollte mit dem Kauf der Taufkerze nicht bis zu meiner Geburt im Mai zuwarten, da sie sie unbedingt zu Maria-Lichtmess in der Kirche segnen lassen wollte. Meine Taufkerze hatte rote Verzie­rungen. So sahen damals die Kerzen für die Buben aus. Wie habe ich mich geschämt, als ich am Weissen Sonntag bei der Taufgelübde-Erneuerung – wie es von den Erstkommunionkindern verlangt wurde – eine rote Kerze hatte, eine Bubenkerze. Meine Gspänli hatten silbrige oder goldene Kerzen oder dann eine blaue Mädchenkerze.

      Wir Kinder waren von nun an in zwei Kategorien aufgeteilt, der Bub und die Mädchen. Dass unsere Mutter uns Mädchen immer im Kollektiv ansprach, hatte wohl auch den Grund, dass sie in ihren jungen Jahren Ferienlager geleitet hatte und die Familie wie ihr privates ­Ferienlager führte.

      Die Säuglingsschwester hatte unserer Mutter eingebläut, man solle den kleinen Kronprinzen ja nicht verwöhnen. Die Eltern hätten es in der Hand, ob aus einem kleinen Jungen später ein Tyrann werde. Die Mutter solle den Jungen nachts schreien lassen. Das sei gut für seine Lungen und mache stark. Und so schrie der kleine Bruder die Nächte durch. Die Mutter stellte das Kinderbettchen in die ­Stube, damit der Vater nicht gestört wurde. Er hatte ja tagsüber seinem anspruchsvollen Beruf als Revisor nachzugehen. Aber jetzt konnte die Mutter gar nicht mehr schlafen, weil sie nichts mehr von ihrem Söhnchen hörte. Ob es wohl noch atmete? Immer wieder musste sie sich vergewissern, ob es noch lebte. Sie beschloss, das Ehegemach zu verlassen und zum kleinen Schreihals in die Stube zu ziehen. Irgendeinmal hörte dann das nächtliche Schreien auf. Unser Bruder hatte sich wohl an sein neues Erdendasein gewöhnt. Davon gingen wir aus.

      Die ersten beiden Lebensjahre

      Ich freute mich über mein kleines Brüderlein. Ich war nun nicht mehr allein, wenn meine älteren Schwestern in der Schule waren. Es konnte so herzig lächeln mit seinen Grübchen, und mit seinen himmelblauen Augen strahlte es mich an! Neben meiner Grossmutter, welche voller Stolz mit ihrem Enkel unterwegs war, nahm ich – die um drei Jahre ältere Schwester – meinen kleinen Bruder schon bald in Obhut. Ich verstand seine Kindersprache und versuchte, seine Wünsche zu erfüllen. «Biip, biip», sagte er, wenn wir ein Vögelchen sahen. «Biip, biip» galt jedoch auch dem Milchmann und seinem Pferd, da der Milchmann jeweils mit einem Pfiff seine Anwesenheit im Quartier ankündete und die Hausfrauen mit ihren Milchkesseln aus den Häusern lockte. Mit «Lellelle» bezeichnete der Bruder unsere Grossmutter. «Lellelle» benannte er jedoch auch die Kirche. Kann sein, weil Grossmama ihn oft in die Kirche mitnahm. Ich interpretierte sein «Lellelle» als seinen Wunsch, in die Kirche zu gehen. So nahm ich ihn eines Tages bei der Hand, und wir beide machten uns zusammen auf den Weg zur nächstgelegenen Kirche, er war zwei, ich noch nicht ganz fünf Jahre alt. Wir gingen mehrmals hin und warteten, bis jemand zum Beten kam, da ich die schwere Kirchentüre nicht allein zu öffnen vermochte. Manchmal war mein kleiner Bruder krank und hatte hohes Fieber. Dann wollte er seine Ruhe ­haben. Es störte ihn, wenn wir etwas lauter waren beim Spielen. «Mama psst», flüsterte er dann und machte ein Zeichen, dass wir aufhören sollten. «Angina», sagte jeweils der herbeigerufene Kinder­arzt. Er war ein sehr gross gewachsener Mann, der den Kopf an unserer Deckenlampe anschlug, was wir Kinder sehr lustig fanden. Wir mochten ihn gern. Er war für uns ein beliebtes Zeichnungssujet, und er nahm unsere Zeichnungen immer sehr wohlwollend entgegen und quittierte unsere Erklärungen mit Humor. Wir hielten den Atem an, wenn er mit der Penicillin-Spritze am Bettrand stand. «Es chonnt es Müggli übers Brüggli und jetzt …», und bevor wir reagieren konnten, hatte er bereits zugestochen.