Alberto Nessi

Nächste Woche, vielleicht


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Sie früh fortgegangen aus diesem abgeschlossenen Tal, Monsieur?»

      «Je me suis sauvé … Hör zu, mon gars, wie heißt du?»

      «Ich heiße Giuseppe. Aber meine Mama nennt mich José.»

      «José …?»

      «Mama ist Lusitanerin.»

      «Hör zu, mein kleiner Lusitaner, geh und hol mir ein bisschen starken Rauchtabak und komm dann herein, ein Glas Cidre trinken.»

      Geschichte des Figurenmalers

      «Mein Tal ist ein Ort, aus dem man besser fortläuft, wenn es einem gelingt, das Tor zu öffnen, ohne in den Abgrund zu fallen. Es bleiben nur die Männer aus den Wäldern. Es bleiben die, die sich an den Schwanz der Ziegen klammern und wie die Schweine leben. Die Dörfler, die am Sonntag nicht feiern wie die Arbeiter und die Fräcke … Es bleiben die Alten, die Schwachsinnigen, die Kinder, die Frauen mit den langen, unter den Achseln festgebundenen Röcken und die Mädchen, die im Wald Heu machen, auf den Felsen Roggen und Rüben pflanzen, im Herbst Körbe voll Esskastanien sammeln. Magst du Mädchen, kleiner Ministrant? Les filles … Wir nennen sie ‹Verrückte› in unserem Dialekt. Ich erinnere mich an Mariangela, die Mitleid hatte und mit den Einsamen in den Heuschober ging. Mariangela würde sofort mit dir gehen, kleiner Ministrant, auf dem Silbertablett würde sie sich dir kredenzen. So ist mein Dorf. Eine Schlangengrube voller Dornen, von außen kommt nie jemand, und man arrangiert sich, so gut es geht, vor Ort, um den Trübsinn zu vertreiben. Die Männer gehen nach Australien auf Goldsuche oder in die Städte in Italien, um den Ruß aus den Kaminen zu kratzen.

      Es gibt einen Mann, der durch unsere Dörfer zieht und Kinder kauft, die kleinen Buben kauft er, hundsgemeine Welt. Er bringt sie nach Locarno. Dann fahren sie mit dem Boot nach Italien. Einmal ist das Boot im See gekentert: Sechzehn aus meinem Dorf sind dabei ertrunken. Die Buben sind dürr wie der Hunger und können gut in den Rauchfang kriechen. Sie fahren mit ihrem Vater los, doch wenn sie dann zu arbeiten beginnen, dürfen sie ihn nicht mehr Papa nennen. Sie nennen ihn Padrone. Und an Silvester werden sie zum Mittagessen eingeladen. Aber still! Sie sitzen mit ihrem schwarzen Gesicht am weiß gedeckten Tisch der Reichen, weil sie Glück bringen.

      Wie sie es machen, die Kamine hinaufzuklettern? Sie stemmen sich mit Rücken, Ellbogen und Knie ab und kriechen nach oben. Und werden dabei so voll Staub, dass sie kaum noch atmen können. Auf den Straßen rufen sie ‹Spazafurnel!›, Schornsteinfeger, und das Trinkgeld, das liefern sie beim Padrone ab.»

      Diese Geschichte beeindruckte mich, dort im Saal des Hôtel de la Couronne. Cherubino war zu Vertraulichkeiten aufgelegt, und ich fühlte mich erwachsen, während die Männer rund um uns mit Monsieur Le Maire ihren Sonntagswein tranken und Pfeife rauchten. Die Blechbläser mit den Federbüschen waren, die Fanfare für Tell spielend, durch die Hauptstraße gezogen und hatten eine Klangspur hinterlassen, ein Versprechen auf etwas Außerordentliches, in dem sich meine Gedanken verloren.

      «In den italienischen Städten mussten die Buben vor der Madonna schwören, nichts zu sagen. In Absprache mit den Padroni ließen die Priester sie schwören. In der Kirche. Aber ich wollte nicht Sklave sein, hundsgemeine Welt, und als der Kinderkäufer gekommen ist, bin ich fortgelaufen in den Wald. In unserem Tal gibt es Steinriesen, die vom Berg gefallen sind, weißt du das? Ich habe mich unter einem dieser Felsbrocken versteckt.

      Meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben, mein Vater war nicht mehr da, mein Bruder hatte sich von einem Anwerber hereinlegen lassen und war nach Australien gegangen. Ich habe da oben immer Madonnen und Gämsen in die Rinde der Kastanienbäume geritzt, dabei habe ich nach und nach gelernt, Figuren zu malen. Vom Kanton Tessin habe ich hundert Franken bekommen und bin drei Monate nach Mailand auf die Kunstakademie im Brera-Palast gegangen. Dann haben die Österreicher uns weggejagt.

      Ich bin mit fünfzehn Schornsteinfegerbuben nach Sono­gno zurückgekehrt. Ich habe die Kirche ausgemalt, Verkündigung und Christi Geburt. Ich habe die Dreieinigkeit gemalt, Abraham mit dem Sohn auf den Knien und dem Engel, der ihm die Hand festhält. Kennst du die biblischen Geschichten, kleiner Ministrant? Moses mit der Bronzeschlange, der Evangelist Matthäus, der in ein großes Buch schreibt, und der Engel, der ihm das Tintenfass hält, Lukas mit dem Ochsen. Lauter heilige Sachen, mon gars, Ware, die aus der Werkstatt des lieben Gottes stammt.»

      Ich lauschte verzaubert. Vielleicht habe ich damals angefan­gen, auf dem Pferd des heiligen Georg zu reiten. Ich lauschte den Geschichten von den Schornsteinfegern und schwang die Lanze.

      «Die Männer aus meinem Dorf, mit Brot und Hunger aufgewachsen, waren eines Tages, als ich noch nicht geboren war, mit der Sichel am Gürtel nach Locarno gezogen, um den Baum der Freiheit auszureißen. Von Freiheit wollten sie nichts wissen. Mit Mistgabeln trieben sie die Jakobiner vor sich her: Diese Gauner – sagten sie – sollen zuerst dem Mönch ihre Schuld gestehen, und dann muss man ihnen den Kopf abschlagen, damit die Seele sich vom Körper trennt.

      Und an einem Marktdonnerstag gehen die Männer aus meinem Dorf auf die Piazza Grande hinunter und ergreifen zwischen den Frauen mit langen Schürzen, den Käselaiben, dem Gemüse und den Strohhüten einen gewissen Gallinière, der die gute Idee gehabt hat, die Getreideboote am Seeufer aufzuhalten: Sie sprechen ein Gebet für ihn, und dann stecken sie seine Gebeine in einen Korb …

      Damals, als auch ich nach Locarno hinunterging, war Karneval. Wir saßen dort beim Essen im Café Agostinetti, schließlich bezahlte ja der Rechtsanwalt. Draußen spielte eine Kapelle. Rauch aus Kesseln. Risotto. Böller, die über die Piazza dröhnten. Rote und blaue Fahnen. Als dieser Erzliberale hereinkommt, so groß wie der heilige Christophorus, und anfängt, alle rundum zu verprügeln, gehen plötzlich die Lichter aus, und die Freunde des Rechtsanwalts ziehen Messer und Stöcke heraus, zur Hölle mit euch, da sollt ihr verkohlen! Der Liberale liegt in seinem Blut, und ich haue ab über die Dächer, mon gars. Ich springe nämlich wie eine Ziege.

      Wo ich hingeraten bin? Auf allen vieren bin ich über die Dächer bis nach Gordola gekommen, und dann habe ich mich einem Carabiniere gestellt, der mit einem sechs Zoll langen Schnurrbart prunkte.

      ‹Ich bin einer der euren. Ich bin Künstler.›

      Da haben sie mich eine Zeichnung des erstochenen Liberalen anfertigen lassen: Ich erinnere mich noch gut, er war blass wie ein Kalb. Mein erstes echtes Porträt ist das Bild eines Toten.

      Dann war ich mit den Carabinieri unterwegs, Druckpressen in Brand stecken. Es schien, als bräche die Revolution aus. ‹Nieder mit der Schurkenregierung, nieder mit den Zylindern!›, ‹Es lebe Radetzky, ein Hoch auf die Kroaten!›. Doch als die Justiz mich gesucht hat, um mich zu vernehmen, bin ich noch einmal zur Ziege geworden. Wenn du dich vor den Menschen retten willst, kleiner Ministrant, lerne wegzulaufen. Und denk daran, dass auch die Hunde sich langweilen, wenn sie immer am selben Ort bleiben.

      Jetzt bin ich ein fahrender Künstler, ich porträtiere die besseren Herrschaften. Aber eines Tages habe ich ein Bild gesehen, in Frankreich, da habe ich begriffen, was wahre Kunst ist. Kunst ist, die Menschen des Alltags lebendig zu machen. Das kann der Schweinehirte sein, die Frau, die einem Kind das Lesen beibringt. Die Menschen, die du um dich siehst. Mit ihren Beulen und schmutzigen Füßen und ihren guten und schlechten Gedanken und den Dingen, wie sie sind, Leute, die arbeiten oder weinen oder Steine klopfen. Wenn du einen Felsen malst, musst du auch die Zeit mitmalen, die sich Tag für Tag auf diesem Felsen abgelagert hat, die weder weiß noch rosa noch hellblau noch braun ist, sondern ein bisschen von all diesen Farben zusammen.

      Gott wohnt in den Chorhemden der Messknaben, nicht in den Flügeln der Seraphim, denk daran. Glaubst du an Gott, kleiner Ministrant? Courbet glaubt an die Natur und ans Gefühl. Naturreligion. Vor dem Meer sitzend, malt er die Wellen und den Sturm. Vor einer Frau malt er ihr nacktes Fleisch.

      Monsieur Courbet habe ich in Frankreich kennengelernt. Dort habe ich zum ersten Mal ein Bild von ihm gesehen: Ich bin mit meiner Staffelei unterwegs, um Porträts zu malen, und eines Tages erfahre ich, dass es in der Kapelle des Seminars ein Gemälde von ihm gibt. Die Leute aus Ornans waren gekommen, um es zu besichtigen. Und alle sagten: ‹Das da ist der Messner, und das ist der Totengräber, und hast du das Kind vom Milchmann