Friedrich Glauser

Der Hellseherkorporal


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unter den Maghzens. Ihrer zwanzig umstanden den Capitaine Materne, fuchtelten mit den Armen, einige schwangen Messer. Der Capitaine stand ganz still. Er hatte nur seine Reitpeitsche, mit der er ungeduldig gegen seine Stiefelschäfte klopfte. Als die Leute immer aufgeregter wurden, machte die Reitpeitsche plötzlich eine kurze Bewegung. Sie traf keinen der Aufrührer. Sie wies nur in die Ferne, und die sehr helle Stimme des Capitaines überklang mühelos den Lärm: «Hemschi l’Bled», rief er. Es klang wie ein Kommando. Es heißt etwa: «Geht in die Wüste, geht zum Teufel.» Das Geschrei der Maghzens verstummte wie abgeschnitten. Und dann schritt der Capitaine davon, und seine Gazelle tänzelte hinter ihm drein.

      Wir hatten natürlich auch einen Hauptmann im Posten. Der hieß Chabert, war dick und klein und trug weder auf der Mütze noch auf den Ärmeln die Abzeichen seines Grades. Er war bescheiden und sehr gütig. Ihr müsst nicht denken, dass es in der Legion überall so sanft zuging wie bei uns. Wir hatten eben Glück gehabt, dass der Capitaine Chabert uns kommandierte. Er hatte von der Pike auf gedient; vor dem großen Krieg war er Korporal gewesen und hatte sich hinaufgedient. Er war schon über vierzig. Seine Frau wohnte in Frankreich. Sie schrieb ihm immer lange Briefe. Die Ordonnanz vom Capitaine hat mir einmal einen dieser Briefe zum Lesen gegeben. Da bat die Frau Chabert ihren Mann, nur recht freundlich mit den armen Legionären zu sein, die hätten so viel zu tragen … Es muss eine gute Frau gewesen sein, die Frau Chabert.

      Wir waren eine sogenannte berittene Kompagnie und galten als Bataillon, weil wir sehr viel Mann waren. Fast dreihundert. Wir brauchten keinen Sack zu schleppen. Was wir auf den Marsch mitnehmen mussten, wurde auf den Sattel des Maultiers geschnallt. Es gab immer ein Maultier für zwei Mann. Wir ritten abwechselnd eine Stunde, dann marschierten wir wieder eine Stunde. Das Tempo war sehr schnell, etwa sechseinhalb bis sieben Kilometer in der Stunde. Und wir marschierten so: Zuerst schritten im Gänsemarsch die Unberittenen der Sektion, mit einem Unteroffizier, der das Tempo angab, dann kamen die Maulesel, dann die Fußgänger der zweiten Sektion, hierauf die Maulesel, dann die Fußgänger der dritten und so fort. Nach einer Stunde Marschieren pfiff der Capitaine. Da stürzten die Fußgänger zu ihren Tieren, die Reiter stiegen ab, die andern stiegen in den Sattel (man musste das Bein sehr hoch heben, denn alle unsere Effekten, vorn und hinten am Sattel aufgeschnallt, waren hoch wie eine kleine Stuhllehne), der Capitaine pfiff noch einmal, ließ den erhobenen Arm nach vorne fallen, und dann ging es weiter. Wir haben oft längere Märsche gemacht als die Kavallerie. Unsere Maulesel waren viel ausdauernder. Manchmal haben wir bis zu siebzig Kilometer im Tag gemacht, einmal sogar neunzig. Aber das war nicht so arg, wie es sich anhört. Denn im Grunde marschierten wir auf unseren eigenen Füßen nur die Hälfte des Weges. Die andere Hälfte ritten wir. Und wir waren nicht beladen.

      Die Maultiere waren komische Tiere. Sie waren mit wenig zufrieden. Sie fraßen die Gerste aus den Ledersäcken, die wir ihnen vor die Schnauze banden, sie fraßen das zähe Alfagras, sie tranken in den kleinen Flüsschen, die man dort Oueds nennt, und eingesäumt sind diese Flüsschen mit Oleanderbüschen, die rot blühen. Mein Maultier hieß Seppl. Es war klein und grau, es hatte einen sanften Gang, und seine Ohren wippten vor meinen Augen und warfen Schatten auf den gelben Weg.

      Schön sind die Nächte dort unten. Selten nur schlugen wir im Sommer die Zelte auf, wir schliefen unter dem offenen Himmel, der weiß von Sternen war. Das Feuer der Köche duftete nach dem brennenden Thymian, es gab Schafragout zum Nachtessen, zum Mittagessen, dazu Reis. Manchmal fehlte das Wasser, das bessere wurde aus den Sandlöchern für die Maultiere geschöpft, der Rest war für uns. Dann war der Reis gelb, als ob er mit Safran gekocht wäre, und die Sandkörner knirschten unter unseren Zähnen. Unser Capitaine sorgte gut für uns. Es gab Konserven, grüne Bohnen, manchmal spendierte er sogar amerikanischen Speck zur Zwischenverpflegung, und hin und wieder gab es auf dem Marsch Konfitüre.

      Ich bin nicht lange mit der Kompagnie marschiert. Ich kam bald darauf in die Verwaltung. Das war, mitten im Posten, ein großer Schuppen, in dem die Weinfässer lagen, daneben war die Bäckerei. Eine kleine Hütte mit nur einer Stube war meine Wohnung. Durch die Verwaltung floss ein kleiner Kanal, eine Seguia, die von dem Flüsschen abgeleitet war, das an Gourrama vorbeifloss. Den Wein, das Mehl, die Gerste für die Maultiere, den Kaffee, die Seife, die Konserven, das alles hatte ich zu verwalten. Ich war unabhängig. Außerdem hatte ich eine Herde von zweihundert Schafen, auch fünf Kühe gehörten dazu. Die Kühe waren nicht viel größer als ein ausgewachsener Bernhardiner und mager. Auch die Schafe waren mager. Jeden Morgen kam ein alter Hirte, ein Berber mit einem weißen Bart; von dem habe ich das Zählen gelernt. Er zählte nur bis zehn: Quachad, susch, thleta, arba, hamsa, sta, sbaa … und haschra, das hieß zehn. Bei zehn spreizte er den Daumen ab und begann von neuem. Bis er zweimal die Finger beider Hände gebraucht hatte. Haschra, zehn, das gefiel mir. Jeden Morgen brauchte die Kompagnie sechs Schafe. Die trieb ich mit meinem Metzger in das kleine Schlachthaus, das neben dem ‹bureau arabe› lag. Wir schlachteten nicht selber. Denn die Leber, die Eingeweide, das Herz, die Lunge der Tiere wurden von den Einheimischen gekauft. Darum mussten die Tiere nach dem Gesetz Moses geschächtet werden. Der Schächter war ein Jehudi, ein Jude, ein winziges Männchen mit einem rötlichen, sehr spärlichen Bart. Der hätte die Tiere nie allein am Boden halten können. Das musste mein Metzger tun, der alte Kainz, ein Wiener. Der Jehudi brachte nur ein wunderbares Messer mit, es sah aus wie ein riesiges Rasiermesser, bei uns würde man es als Reklame gebrauchen. Der alte Jude kniete neben dem Schaf auf den Boden, murmelte irgendeine uralte Beschwörungsformel, vielleicht war es auch ein Gebet, und tat einen langen Schnitt durch die Kehle des Tieres. Es war gleich tot. Das Blut sickerte auf den Boden, und mein Hund, er hieß Türk und sah aus wie ein Dackel, nur größer, leckte das Blut auf.

      Ein paar gute Freunde habe ich im kleinen Posten gehabt. Etwas lernt man ja in der Fremdenlegion, das ist Kameradschaft. Einem Soldaten, der alles, was er sieht und erfährt, den Vorgesetzten erzählen geht, dem geht es nicht gut. Prügel sind das wenigste. Aber man spricht nicht mehr mit ihm, er ist ein Ausgestoßener. Angeberei ist etwas Hässliches. Man muss zusammenhalten, das ist im Leben immer so, das sollte man lernen und es sich hinter die Ohren schreiben. Ich erinnere mich an einen kleinen Deutschen. Er hieß Schneider. Der war klein und mager und hatte das Sumpffieber erwischt. Eine Zeitlang lag er im Krankenzimmer, aber dann musste er wieder ausrücken. Kranke hat man nicht gerne in der Legion, und selbst unserem Hauptmann, der sonst ein guter Mensch war, wurde die Sache zu dumm. Der kleine Schneider musste mitmarschieren, als wir das nächste Mal ausrückten. Er konnte nicht mehr recht. Kameraden haben mir dann erzählt, wie es gegangen ist. Die Kompagnie kampierte für die Nacht. Der kleine Schneider war müde, und trotzdem bestimmte ihn ein Wachtmeister, der ihn nicht leiden konnte, für die Wache. Da hat der kleine Schneider sein Gewehr genommen, hat die Mündung gegen seine Brust gerichtet und mit der Zehe den Hahn gezogen. Der Schuss ist ihm in die Brust. Am Morgen haben sie ihn tot gefunden. So ist der kleine Schneider gestorben. In seiner Brusttasche hat man eine alte Brieftasche gefunden. Darinnen waren ein paar Photographien und Briefe, die vom Lesen ganz schmutzig geworden waren. Es waren Bilder von seiner Mutter, und auch die Briefe waren von der Mutter. Der Capitaine hat der alten Frau, die irgendwo in Deutschland wohnte, die Briefe und die Photis geschickt. Dazu hat er geschrieben, ihr Sohn sei tapfer vor dem Feinde gefallen. Ich weiß nicht, ob das die alte Mutter getröstet hat.

      Unter den Russen hatte ich am meisten Freunde. Es waren meist Soldaten der Weißen Armee, die von den Kommunisten geschlagen worden und dann nach Konstantinopel geflohen waren. Dort hatten ihnen die Franzosen versprochen, sie würden es gut haben in der Legion. Aber zwischen den Versprechungen und der Wirklichkeit ist ein langer Weg. Es waren Fürsprecher, Ärzte, Journalisten unter ihnen. Man hatte ihnen versprochen, sie würden bald Offiziere werden. Aber als sie dann in Bel-Abbès auf diese Versprechungen pochten, wurden sie ausgelacht und mussten Dienst als einfache Soldaten tun. Sie wurden zwar ziemlich bald Unteroffiziere, aber als Korporal hat man es dort noch schlechter denn als einfacher Soldat. Man schläft und lebt mit der Truppe. Wenn die Leute auf dem Marsch schlecht aufgelegt sind, so kann man lange kommandieren, sie folgen doch nicht und lachen einen aus. Auch der Capitaine Chabert lachte uns Korporäle aus, wenn wir uns beklagen kamen, man wolle uns nicht gehorchen. «Zieh deinen Kittel aus», sagte er zu uns, «wenn du Angst um deine Schnüre hast. Und dann prügle dich, bis sie dir folgen.» Ich muss zwar sagen, dass ich mich weder geprügelt noch beklagt habe. Ich habe eben einfach mitgeholfen und auf meine Schnüre gepfiffen. So ging es eigentlich ganz gut, und