einsetzen können, wären wohl die bekanntesten ungelösten Mordfälle der Schweiz wie der Mord in Kehrsatz BE, der Fünffachmord in Seewen SO, der Mord an Rebecca Bieri und der Kristallhöhlenmord aufgeklärt.
Die Verfechter der Verjährung, einschliesslich der Bundesrat, halten an der heutigen Gesetzesregelung fest. Sie fürchten Nachteile für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und ein Wiederaufleben der «Rachejustiz». Tatverdächtige könnten auf wackliger Beweisgrundlage vor Gericht gezerrt und abgeurteilt werden. Nach ihrer Argumentation nimmt die Zuverlässigkeit der Beweise mit der Zeit ab, insbesondere Zeugenaussagen, und es wächst die Gefahr von Fehlurteilen.
Die Gegner der Verjährung wehren sich zwar vehement dagegen, dass ein Tötungsdelikt nach Jahren abgehakt und vergessen werden soll. Grund dafür ist aber nicht die Vergeltung, sondern die Aufklärung des Verbrechens. Die Betroffenen leben in der Hoffnung, dass die quälende Ungewissheit irgendwann ein Ende hat.
Skeptisch gegenüber der heutigen Verjährungsregelung bei Mord ist auch der Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat Daniel Jositsch (53). Er plädierte in einem Interview mit dem «Sonntagsblick» vom 6. März 2016 für eine Lösung nach englischem Vorbild. Demnach wirkt sich die lange zeitliche Distanz zum Verbrechen strafmildernd für den Täter aus. Die Strafe kann reduziert oder ganz erlassen werden.
Vielleicht das Zukunftsmodell für die Schweiz. Ursprünglich betrachtete ich die Verjährung im Sinne der Konfliktberuhigung als etwas Gutes und stufte die Kritik daran als rechtspopulistische Stimmungsmache ein. Aufgrund unzähliger Gespräche mit Betroffenen bin ich heute jedoch der Ansicht, dass die Verjährung bei Mord abgeschafft und dessen Verfolgbarkeit ohne zeitliche Schranke ermöglicht werden soll – wenigstens zur Wahrheitsfindung. Dies liegt sogar im Interesse der Tatverdächtigen, die sich mittels DNA-Beweis vom Verdacht für immer befreien wollen.
Nicht ganz richtig ist der Einwand, die Verjährungsregelung bei Tötungsdelikten habe nur für die Allerwenigsten von uns praktische Bedeutung. Wer davon betroffen ist, trifft es umso härter. Und davon berührt ist nicht nur ein enger Kreis von Angehörigen, wie man landläufig meint. Gerade in der heutigen medialen Welt löst ein schweres Verbrechen weit über die Region hinaus Betroffenheit aus. Deshalb ist auch die Aufklärung und Aufarbeitung eines Mordes ein Anliegen, das weite Bevölkerungskreise betrifft.
Ebenfalls unzutreffend ist das Argument, dass die Aufklärung von Mordfällen nach vielen Jahren so gut wie nie vorkomme. In Deutschland und in den USA werden solche Fälle immer wieder publik. Es handelt sich um sogenannte «Cold Cases», die von den Ermittlern nach sogar 35 und 40 Jahren mit frischem Elan und neuen Lösungsansätzen aufgegriffen werden – oft mit Erfolg.
Das zeigen Beispiele aus jüngster Zeit. Im September 2017 wurde in Hamburg ein 58-jähriger Mann gefasst, der 1981 eine 35-jährige Mutter von drei Kindern getötet hat. Der Fall beschäftigte die Polizei während Jahrzehnten. Nach 36 Jahren gelang ihr der Durchbruch. Den entscheidenden Hinweis lieferte eine neue Zeugin, die durch die sozialen Medien auf zwei neue Polizeivideos zum Fall aufmerksam geworden war. Der Mann, der wegen anderer Delikte schon im Gefängnis sass, ist geständig.
Im Mai 2018 gab die Polizei in Nienburg, Bundesland Niedersachsen, die Aufklärung des «Angler-Mordes» bekannt, der im Juli 1984, also vor 34 Jahren, für Schlagzeilen gesorgt hatte. Ein 49-jähriger Angler wurde an einem Seitenarm der Weser erschlagen und ausgeraubt. Ein neuer Zeuge und die geraubten Gegenstände, darunter eine silberne Taschenuhr, führten auf die Spur des Täters, eines heute älteren Mannes aus der Gegend des Tatortes.
Am 24. April 2018 verbreitete die Kriminalpolizei von Sacramento im US-Bundesstaat Kalifornien die Erfolgsmeldung: Der seit mehr als vierzig Jahren gesuchte «Golden State Killer» ist gefasst. Dieser soll zwischen 1976 und 1986 mindestens 12 Morde und 45 Vergewaltigungen begangen haben. Er spionierte seine Opfer während Monaten aus, ehe er sie überfiel, misshandelte und tötete. Die DNA eines Verwandten führte zur Identifizierung des Serienmörders, eines heute 72 Jahre alten Ex-Polizisten. Dieser wurde inzwischen mehrfach verhört, das Gerichtsurteil steht noch aus.
Auch in der Schweiz spielt Kommissar Zufall viele Jahre nach einem Verbrechen der Polizei in die Hände. Beispiel Fünffachmord von Seewen SO im Jahr 1976: Zwanzig Jahre nach der Tat, im Jahr 1996, wurde in Olten bei einem Wohnungsumbau die Tatwaffe, das Winchester-Gewehr mit abgesägtem Lauf, gefunden. Dadurch entstand eine völlig neue Ausgangslage für die Ermittler. Pech für sie, dass der Besitzer der Waffe nicht mehr auffindbar war. Sonst wäre der berühmteste Rätselmord der schweizerischen Kriminalgeschichte heute womöglich gelöst. Und im Oktober 2015 gestand ein in Basel wohnhafter Mann einen Mord an einer jungen Frau, den er 28 Jahre zuvor, im Sommer 1987, in Karlsruhe begangen hatte. Die Tat ereignete sich in einem Karlsruher Park unweit des Konzertgeländes, wo am gleichen Tag Rocklegende Tina Turner auftrat. Der Mann sagte, das schlechte Gewissen plage ihn. Er wolle reinen Tisch machen. Polizeiliche Abklärungen ergaben, dass er die Wahrheit sagte.
Es trifft zwar zu, dass Ermittler heute schon in mehreren Kantonen nach mehr als dreissig Jahren neuen Hinweisen nachgehen und Spuren verfolgen. Allerdings sind prozessuale Zwangsmittel wie Hausdurchsuchung oder Verhaftung ausgeschlossen, und somit bleibt auch die Wahrheitsfindung auf der Strecke. Würde ein Täter einen in der Schweiz begangenen Mord nach über dreissig Jahren zugeben, ähnlich wie beim Mord in Karlsruhe, hätte das rechtlich nicht einmal Konsequenzen. Täter bleiben unbehelligt. Die Behörden sind nicht verpflichtet, sich zu erklären oder gar aktiv zu werden.
Das Resultat meiner Recherchen ist eine Auswahl bekannter ungeklärter Mordfälle und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Auch habe ich die Fälle mit unterschiedlicher Intensität und Tiefenschärfe recherchiert. Im «Sonntagsblick» vor zwei Jahren veröffentlichte ich zwei Artikelserien über ungelöste Morde, die ich inzwischen weiterentwickelt und thematisch erweitert habe. Zudem veröffentlichte ich 1997 ein Buch über Mordprozesse in der Schweiz.
Speziell achtete ich beim Verfassen des vorliegenden Buches auf Verständlichkeit und Leserlichkeit der Texte und unterschied deshalb nicht juristisch streng zwischen Begriffen wie «Mord», «Tötung», «Doppelmord» etc., wie dies in einer wissenschaftlichen Abhandlung notwendig wäre.
Eine Sonderstellung in diesem Buch nehmen berühmte Indizienprozesse ein, allen voran der Kehrsatzer Mordprozess und der Braunwalder Steinschlagprozess. Beide sind mir ebenfalls aus meiner Studienzeit gut bekannt. In beiden Fällen wurden erstinstanzliche Verurteilungen in Freisprüche umgewandelt. Somit sind auch diese Kriminalfälle ungeklärt. Die Mordprozesse zeigen das erbitterte Ringen um die entscheidende Frage: schuldig oder unschuldig? Und sie führen mich zum Schluss, dass auch Gerichte keine Garanten der Wahrheitsfindung sind und ebenso wie die Menschen, aus denen sie bestehen, unberechenbar und stimmungsabhängig entscheiden.
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