Dora Sakayan

"Man treibt sie in die Wüste"


Скачать книгу

(13. August 1917).

      Unter diesen Umständen wurde Clara immer zäher und ­konnte etwa gelassen zusehen, wie ihr Mann Vipern erschlug, auf Schlangen schoß, Fallen für Schakale stellte und allerlei Ungeziefer vernichtete.

      Clara graute es vor den verschiedenen Ungeziefern. Sie wusste, dass eine einzige kleine Laus ein Flecktyphuserreger sein könnte, dass Mücken die Malaria übertragen und Fliegen die Ruhr ­und andere ansteckende Infektionskrankheiten verbreiten. Auch war ihr bewusst, dass die vertriebenen und geschwächten Armenier für diese Krankheiten am anfälligsten waren und die Seuchen gleichzeitig auch verbreiteten. Mit Entsetzen beschreibt Clara das einzige für die Verhältnisse «normale Begräbnis», das sie in der Stadt Aleppo sah: «Ein kleiner achtjähriger Junge fällt beinahe ganz aus seinem Sarg heraus, Schwärme von Fliegen kriechen ein und aus. (…) Große Epidemien sind vorauszusehen» (28. September 1915).

      Die unmöglichen hygienischen Verhältnisse in der ganzen ­Gegend führten tatsächlich zu Seuchen und Epidemien: Flecktyphus, Malaria, Influenza, Cholera, Ruhr, die ägyptische Augenkrankheit (Trachoma) u.ä. Bei den Sigrists wurden diese Infek­tionskrankheiten zu einem wichtigen Gesprächsthema während ihrer täglichen Zusammenkünfte. Anfang 1916 sprach man schon von Europäern aus ihrem Bekanntenkreis, die sich mit dieser oder jener Krankheit angesteckt hatten. Am häufigsten waren es Ärzte, die erkrankten. Am 24. Januar 1916 notiert Clara: «Dr. Farah zum Mittagessen da. Er kommt von Bagtsche, wo Dr. Konos am Flecktyphus erkrankt ist.» Dann am 9. Februar 1916: «Nun erkrankt auch noch Dr. Badier am Flecktyphus, der unsern Doktor in Entilli ersetzt. Also ist für die Strecke keiner mehr zu haben. Da und dort sind neun Fälle.» – «Rundum hat fast alles Fieber», heißt es am 3. Juli, und am 7. September 1916 war es Frau Wittig, die Frau des deutschen Ingenieurs von Fritz, der es elend ging, und der Doktor meinte, sie habe Typhus.

      Die Südost-Türkei war von der Cholera-Epidemie am stärksten betroffen. Am 5. Oktober 1915 berichtet Clara von den ersten Cholerafällen, und am 22. Mai 1916 vermerkt sie, dass wegen Cholera selbst in Aleppo schon die Schulen geschlossen seien. Dr. Schilling43, der in den Jahren 1915–1916 in der Amanus-Gegend stationierte deutsche Sanitätsarzt, trägt Folgendes vor: «Dr. Schiff und ich fanden die Dörfer des Amanus stark durchseucht, anscheinend durch die von Norden durchziehenden Truppen. Eine Infektionsquelle schien der schmutzige Straßenort Keller zu sein, drei Stunden oberhalb Islahiye, wo an der Straße ein Rinnsal von ei­nem fließenden Brunnen aus verlief und, stark verunreinigt, stets reichlich zum Trinken, Waschen, Spülen gebraucht wurde.»44 Von demselben Brunnen ist wohl in Claras Tagebuch die Rede: «Die ersten Cholerafälle durch armenische Deportierte gestern abend hierher gebracht. Sie winden sich und sterben direkt neben dem Brunnen des Dorfes. Es ist uns beiden zum Davonlaufen» (25. Ju­ni 1916). Und wer – statt der Sigrists – läuft davon? Der türkische Kommandant! Am 26. Juni 1916 notiert Clara entsetzt: «Der Kommandant hat zusammengepackt und ging auf plötzlichen Befehl, oder aus Angst vor der Cholera? Diesen gesammelten Armeniern, die alle choleraverdächtig waren, sagte er, sie sollten gehen, wohin sie wollten. Alles stob auseinander. Eine Frau war nachts schon in das Dorfhaus gegangen, wo sie starb. Fritz sagte einem Türken ruhig, dass solche Häupter des Gesetzes bei uns [in der Schweiz] gehängt würden.»

      Zum Glück folgten bald darauf Impfungen und Quarantänen, und die Eheleute Sigrist-Hilty blieben von den vielen Seuchen verschont.

      Eine glückliche Ehe

      Allen Gewalten zum Trotz waren Clara und Fritz während ihres dreijährigen Aufenthalts in der Türkei ein glückliches Ehepaar. Zwar kommt in Claras Notizen ihr Liebesglück nur gelegentlich zum Ausdruck, doch stillschweigend ist es immer da. Meist wird es in der Blumensprache ausgedrückt, Clara freut sich, wenn Fritz ihr einen blühenden Zweig oder einen Herbststrauß nach Hause bringt, und vermerkt das in ihrem Tagebuch. Aber auch selbst ist sie oft auf Blumensuche, und prachtvolle Sträuße schmücken zu jeder Jahreszeit ihr Haus. Am 2. März 1916 heißt es: «In meinem Stübli duftet eine Blumenfülle. Das türkische Waschbecken in Messing ist ganz gefüllt mit Narzissen.» Man fühlt Claras Zufriedenheit, wenn man in ihrem Eintrag vom 26. April 1916 liest: «Fritz weiß aber doch meine vielen Blümeli auf dem Tisch still zu würdigen.»

      Clara legt Wert darauf, dass die christlichen Feste, soweit es geht im fremden Land, gefeiert werden. So vergeht schon im ersten Jahr ihres Aufenthalts in der Türkei die ganze Adventszeit von 1915 mit «Weihnachtsarbeiten». In den Wochen vor Weihnachten «duftet es im Hüsli nach Tannen», auch nach Gewürzen, die für die Weihnachtsguetzli gemörsert werden, und nach gebackenen Hausleckerli. Am 22. Dezember richten sie mit zu zweit handgemachtem Schmuck einen Christbaum, während im Garten eine Weihnachtsgans geschlachtet wird. Zu Weihnachten gibt es dann einen schönen Schmaus und einen fröhliche Austausch von «kleinen Überraschungen» sowie die Lektüre der Weihnachtspost von Zu Hause. Für die Neuvermählten schließt das Jahr 1915 am 31. Dezember mit einem Glas Punsch bei brennendem Tannenast und Weihnachtsbaum und mit dem Eintrag: «So still, glücklich und in Dankbarkeit.»

008-In%20Keller.jpg

      Herbst 1915. Clara und Fritz in ihrem Haus in Keller.

      Clara erlebt das berufliche Leben ihres Mannes intensiv mit, und Fritz hält sie ständig auf dem Laufenden. Sie verbringt oft Stunden bei ihrem Mann im Büro.45 Sie sieht sich meist als Teil der Bahnbelegschaft, ist mit allen befreundet, und wenn sie über die traurigen Bahnangelegenheiten berichtet, schließt sie sich mit «wir» und «unser» ein: «Wir sollen noch 1000 arbeitende Armenier haben», oder: «Nicht einmal Waisenmädchen bekommen wir frei»: oder «Unsere Soldaten begraben die Toten.»

      Clara hat Verständnis dafür, dass ihr Mann lange Stunden auf der Strecke verbringt, selbst wenn es ihr nicht ganz recht ist. Sie weiß, dass Fritz innerhalb einer bestimmten Frist die Arbeit seiner Sektion abschließen muss und dass diese «wie ein Schmuckkästchen» aussehen soll (22. Oktober 1916). Am liebsten hat sie es, wenn Fritz in der Nähe arbeitet und sie ihm «mit dem Zeiß46 zugucken» kann. Manchmal reitet sie gegen Abend mit einem der Diener Fritz entgegen, um ihn von der Strecke abzuholen. Sonntags und sonst nach Feierabend reiten sie zu zweit bis zum Baugelände, und Fritz führt Clara über Viadukte, durch neue ­Einschnitte für die Bahnstrecke und durch Tunnel. Wenn es zu heiß wird – «35 Grad im Zimmer» –, gehen sie in den Tunnel, um sich abzukühlen. Begeistert beteiligt sich Clara an Festlichkeiten des Betriebs aus Anlass eines Tunneldurchschlags oder Geleiselegens. Am schwersten fallen ihr die Dienstreisen von Fritz, wenn er länger fehlt und sie «wieder Strohwitwe» wird. Nachdem sie aber das «kleine Schätzli» bei sich hat, ist es nicht mehr so schwer.

      Ab und zu lässt die sonst kühne Clara erkennen, wie sehr sie um ihres Mannes Leben zittert. Am 24. November 1916 schreibt sie: «Ich warte bis 2h auf Fritzens Heimkommen, zuletzt in wirklicher Angst.» Wenn es um «Fritzens Heimkommen» geht, kann Clara sehr ungeduldig werden. Am 1. August 1917 schreibt sie: «Der ganze Tag ein Warten auf Fritz. Abends gehen wir ihm sogar entgegen, er kommt aber nicht; schon ist’s halb sieben und mir fängt’s an mächtig angst zu werden; da tönt sein Pfiff von der Straße her, Gottlob, und der Abend ist schön.»

      Clara und Fritz sind beide gastfreundlich, und es fehlt bei ihnen nie an Gästen. Clara verbringt Stunden in der Küche, und sie scheint das Kochen zu genießen, natürlich mit Kohar, der kurdischen Dienerin. Bei den Sigrists ist die Speisetafel immer reichlich gedeckt, und es gibt Platz für viele. Fritz, stets gesellig und kontaktfreudig, bringt häufig Kollegen zum Tafeln mit nach Hause, was er Clara vorher per Kabel mitteilt. Bereitwillig richtet dann Clara das Essen her und ist immer eine liebenswürdige Gastgeberin. Selten zeigt sie ein Zeichen der Unzufriedenheit oder Müdigkeit, auch wenn acht Personen unangemeldet kommen wie am 9. Juli 1917. Dann heißt es lediglich: «Mein Häusli ist übervoll.» Nur ein einziges Mal, am 27. September 1916, ist Clara irgendwie ermat­tet, und sie klagt. «Viel Küchenarbeit. Kohar wäscht. Nach Tisch setze ich mich gemütlich zu Frau Wittig, um auszuruhen, da lässt mich Fritz rufen und es heißt Nachtessen richten. Oberst Fouad Ziya Bey47 übernachtet hier. Schüli müed.»48 Dieses einzige Mal war also Clara «sehr müde.» Das sah ihr gar nicht ähnlich. Ob es am Gast lag?

      Natürlich sehnt sich Clara manchmal auch nach Zweisamkeit,