unverblümt, die Schweiz möge sich verhalten wie das Edelweiß am Felsen, »das in die Welt hinausstrahlt, ohne andere zu behelligen«.188
Anpasserisch bis zur Subordination reagierte auch die politische Führung. Drei Tage nach Frankreichs Kapitulation hielt Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz seine berüchtigte Radioansprache, in der er sich zur faschistischen Neuordnung Europas bekannte. Für die bisherige Politik der Neutralität gegenüber allen kriegführenden Staaten gebe es jetzt keinen Grund mehr. »Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen.«189 Im September empfing er eine Delegation wichtiger Schweizer Faschisten, im November erfolgte die berüchtigte »Eingabe der Zweihundert«: Zweihundert führende Schweizer aus Wirtschaft, Bildung und Politik verlangten offen eine Angleichung an die Achsenmächte. Die Armeeführung war bis in die Spitze gespalten. Deutschfreundliche Generalstabsoffiziere versuchten den antideutsch eingestellten General Guisan zu entmachten und die Schweizer Armee zu demobilisieren. Guisan konterte mit einer neuen Verteidigungsstrategie, dem Réduit190 , und dem legendären Rütlirapport. Gleichzeitig verstärkte man die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Achsenmächten. De facto war die Schweiz ab Ende 1940 ein Teil des deutschen Wirtschaftsraums. Sie wurde der wichtigste Umschlagplatz des Reichs für Devisen und Gold – auch von Raubgold.191 »Sechs Tage in der Woche arbeiten die Schweizer für Hitler, und am Sonntag beten sie für seinen Untergang«, hieß der Witz der Zeit.
Der Anpassungsdruck erzeugte allerdings auch Gegendruck. Humanitäre Organisationen und Gewerkschaften mobilisierten zum Widerstand und gründeten antifaschistische Bewegungen. Zahlreiche Flüchtlingsorganisationen traten in Erscheinung. »Der große Teil der Bevölkerung, auch der Politiker, war in jener Zeit eindeutig antifaschistisch eingestellt. Zweifelhaft war die Haltung verschiedener Herren in den Chefetagen der Industrie, der Banken, der Politik und auch der Armeeführung«, so Hans Mayer, der in jener Zeit als Flüchtling in der Schweiz lebte.192
»Ich habe versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«
Im Sommer 1940 erwarb Frisch während eines Diensturlaubs sein Diplom als Architekt. Das erste Ziel, der bürgerliche Beruf, war erreicht. In einem Architekturbüro in Baden, später bei seinem Lehrer William Dunkel, fand er erste Anstellungen. Mit dreißig Jahren verließ er 1941 erstmals den mütterlichen Herd und bezog eine eigene Wohnung. »Ich bin dreißig und habe endlich einen Brotberuf, ein Diplom, ich bin dankbar, daß ich eine Stelle habe: acht bis zwölf und eins bis fünf. Ich kann heiraten … Ich bin nicht mehr Student und nicht mehr Schriftsteller, ich gehöre zur Mehrheit.«193
Die Frau, die Frisch 1942 heiratete, war »eine junge Architektin, die mir am Reißbrett half und das Mittagessen richtete«,194 so Frischs recht nüchterne Beschreibung seiner Frau sechs Jahre nach der Hochzeit. Sie hieß Gertrude Anna Constance von Meyenburg, genannt Trudy, und war eine erstklassige Partie für den sozialen Aufsteiger. Die von Meyenburgs, ein reiches und adliges Schaffhauser Geschlecht mit weitverzweigten verwandtschaftlichen Verbindungen zum Berner und Zürcher Patriziat, seit 1706 Reichsritter des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, besaßen außer Fabrikbeteiligungen, Immobilien und Bauland unter anderem das Gut »Schipfe« in Herrliberg mit eigenem Clevner Weinbau. Goethe hatte im September 1797 dort ebenso zu Gast geweilt wie Winston Churchill nach seiner berühmten Zürcher Universitätsrede im Jahr 1946. Während des Krieges dirigierten, musizierten und sangen internationale Berühmtheiten im großen Festsaal.195 Man hatte Geld und Kultur. Constances Großvater, Victor von Meyenburg, war als Bildhauer selber künstlerisch tätig gewesen. Sein Minnesänger Hadlaub ziert noch heute den Zürcher Platzspitz. Das jüngste seiner elf Kinder, Hanns von Meyenburg, der Vater der Braut, hatte als Pathologe Karriere gemacht, wurde Professor und Institutsdirektor an der Universität Zürich und amtete dort zwei Jahre lang als Rektor. Das neue pathologische Institutsgebäude ist im wesentlichen sein Werk. Seine Zugehörigkeit zum Corps Tigurinia und zur Münchner Franconia trug ihm die Standeszierde eines backenbreiten Schmisses ein. Er hatte eine Frau aus der Textilindustriellenfamilie Weber geheiratet und während des Kriegs billiges Gutsland erworben, welches, in Bauland umgewandelt, ihm beim Verkauf ein Vermögen abwarf. Die Legende, er habe sich von seinen Kindern siezen lassen, ist, so Trudy von Meyenburg, erfunden.196
Am 30. Juli 1942 heirateten Max und Gertrude Anna Constance. Die Hochzeit war aristokratisch mit Frack, Schleppe und weißen Handschuhen. Die Zürcher Gesellschaft gab sich die Ehre. Werner Coninx und Rolf Hässig, ein Architekturkollege, waren die Trauzeugen. Das junge Paar bezog an der Zollikerstraße 265, in einem guten Quartier am unteren Zürichberg, eine bescheidene, doch standesgemäße Wohnung. »Ich habe damals versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«, erinnerte sich Frisch Jahrzehnte später.197
Hochzeit mit Gertrude Anna Constance von Meyenburg am 30. Juli 1942.
Frisch hat sich vehement gegen den Vorwurf gewehrt, er habe seine Frau aus Berechnung, nicht aus Liebe geheiratet.198 Aber er gestand auch einem Freund und Kollegen: »Beim ersten Kuß wußte ich, daß das nicht die richtige Frau für mich war. Aber ich habe sie geheiratet. Drei Kinder haben wir gemacht und zwanzig Jahre zusammengelebt.«199 Liebe und Berechnung sind zwar unterschiedliche, nicht aber notwendigerweise gegensätzliche Empfindungen. Hannes Trösch, Frischs engster Mitarbeiter von 1947 bis 1955, und auch Käte Rubensohn beurteilten die Ehe übereinstimmend als eine große Liebe von seiten der Frau, weniger von seiten des Mannes.200 Frisch hatte während der Ehe zahlreiche Freundinnen. »Er hat es in der Ehe und der Bürgerlichkeit anders gar nicht ausgehalten«, so Hannes Trösch. An diesem Verhalten sei schließlich die Ehe gescheitert.201 Trudy Frisch-von Meyenburg hingegen vermutete eine Charakterprägung: Die prickelnde Lust, unbelastet von Vergangenheit und Folgen neue Frauen kennenzulernen, habe ihn immer wieder zu neuen Liebschaften getrieben, eine Lust, die ja auch in Santa Cruz und in Bin beschrieben sei. Er habe es genossen und gebraucht, daß ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil wurde, sie als Mutter habe sich um die Kinder kümmern müssen und daher nicht unbeschränkt für ihn da sein können.202 Entgegen seinen Selbstaussagen sei Frisch nicht wirklich bemüht gewesen, als Bürger »eifrig« zu sein, sondern habe – innerlich voll Skepsis und Fluchtbereitschaft – mit der gutbürgerlichen Hochzeit eine Lebensform übernommen, die nie wirklich die seine geworden sei. Dazu gehörte auch, daß er sich weder in der Kleidung noch im Auftreten um einen bürgerlichen Habitus bemühte, sondern sich weiterhin primär als Künstler verstand, der einen Großteil seiner Zeit mit Schreiben verbrachte. Trösch berichtete, Frisch habe in seiner Architektenzeit mehr mit Schreiben als mit Bauen verdient; was nicht bedeute, daß die Schriftstellerei ihm viel eingebracht habe, eher: die Architektur sehr wenig. »Wir hatten damals alle kein Geld, auch Frisch nicht.«203 Die literarische Produktion der Jahre 1941 und 1942 ist nicht umfangreich: Frisch leistete Aktivdienst und baute zusammen mit Trudy ein Einfamilienhaus für seinen Bruder Franz Bruno in Arlesheim (siehe S.214). Nebenbei verfaßte er weiterhin Zeitungsbeiträge und schrieb an einem neuen Roman.
Zwei Rezensionen sind besonders interessant, denn sie zeigen den Beginn einer poetischen Umorientierung. Im ersten Text begreift Frisch Dichtung noch ganz traditionell als Selbstevokation der Dinge durch Sprache: »Echt dichterisch« sei es, die Dinge nicht zu schildern, sondern selber zum Sprechen zu bringen: »Worte wölken sich auf, schwebende Gebirge«, man spüre die »Wäßrigkeit des Wassers« usw. Im zweiten Text hingegen wurde der Ansatz differenziert und leicht verschoben. Dichtung, so hieß es nun, sei das »Schaubarwerden des Unsäglichen«,204 das Unsägliche aber könne nur durch Gestaltung schaubar gemacht werden.205 Hier erschien in nuce erstmals der Gedanke, daß die Wahrheit der Dinge unsagbar sei und also durch Sprache nicht direkt evoziert werden könne. Einige Jahre später dachte Frisch diesen Gedanken zu Ende und faßte ihn in die bekannte Formel: »Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.«206 Sprache bringt das Wesen der Dinge nicht mehr zum Klingen, sondern umstellt es, bis es als Aussparung spürbar wird.207
Im Oktober 1941 wanderten Frisch und Constance über den Pfannenstiel. Sie sollte die Landschaft Zollingers kennenlernen. In einem