Identität und, was damit zusammenhängt, nach einem sinnvollen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft: Was bin ich, und wie muß ich leben, um mich selbst zu gewinnen? Diese Frage drängte Frisch zum Schreiben, und schreibend versuchte er sie zu lösen. Er befand sich dabei in bester Gesellschaft: Die Identitätsfrage ist ein Zentralproblem der westlichen Literatur unseres Jahrhunderts.
Vordergründig literarisierte Frisch in Was bin ich? seine aktuelle Lebenssituation: Ein Student, dessen Vater gestorben ist, bricht sein Studium ab und sucht einen Broterwerb als Journalist. Der Tod hat sein soziales Sicherungsnetz zerrissen und ihn vor die Existenzfrage gestellt. Doch es geht nicht bloß um die materielle Existenz. »Geld ist zwar notwendig zum Leben, aber noch viel notwendiger ist es, zu wissen, was man denn ist und wozu man eigentlich taugt.«54 Zwischen »lächerlicher Überheblichkeit« und »lächerlichen Minderwertigkeiten« hin und her gerissen, sucht der junge Mann nach Orientierung und Selbstbestimmung. »Zum Ersäufen bin ich innerlich zu schön«, zum bescheidenen Mittelmaß jedoch zu schade. »Größenwahn und Minderwertigkeitsängste sind immer noch interessanter als die Erkenntnis: ich bin einer vom Millionendurchschnitt.« Der Exstudent möchte Dichter werden, Romane schreiben, Novellen, Komödien – ein selbstbestimmtes, schöpferisches Leben führen. Das ist die eine Seite. Doch wovon leben? »Ich muß Brot verdienen; aber ich will mich nicht lebendig begraben lassen. Da kenne ich Leute, die leben nur, um Geld zu verdienen; und das Geld verdienen sie, um leben zu können; und leben tun sie wiederum, um Geld zu verdienen. Ein Witz. Ich will aus meinem Dasein nicht einen Witz machen. Beruf soll nicht Zwangsjacke sein, scheint mir, sondern Lebensinhalt.«55 Ein sicheres Gespür sagt dem jungen Mann, daß entfremdete Lohnarbeit und ein kleinbürgerliches Angestelltendasein kein gangbarer Weg für ihn sind. Ein Künstlerleben macht Sinn, doch es stellt ihn an den Rand der Gesellschaft und macht brotlos.56 Eine Familie wäre da nicht zu gründen, denn »eine Frau … kostet Geld … eine Wohnung kostet Geld … Kinderchen kosten Geld«.57 Und wer weiß, ob das Talent für ein Künstlerleben ausreicht.58
Mit Was bin ich? fand Frisch nicht nur ein Lebensthema, sondern auch zwei typische Stilmerkmale: Die Auseinandersetzung in der Frageform – er wird sie später zu den legendären Fragebogen weiterentwickeln. Und die Schreiblist, in einer Ich-Form zu schreiben – »Mein Name ist Frisch. Max Frisch stud. phil. I«59 –, die sich autobiographisch ausnimmt und doch zugleich Kunstform ist. In den späten Texten Montauk und Schweiz ohne Armee? Ein Palaver wird er dieses Verwirrspiel auf die Spitze treiben.60
1933. Foto Hans Staub/Max-Frisch-Archiv/Stiftung für die Photographie Zürich.
Angestellten-Dasein versus Künstler-Leben, Normalmaß versus Außerordentlichkeit, soziale Integration versus Selbstverwirklichung, Sinn versus Lohn, das war das Grunddilemma des jungen Frisch, im Leben wie in der Literatur. Es war zugleich die Klammer, die Literatur und Leben aufs engste zusammenschloß. Noch sah Frisch dieses Dilemma nicht historisch, noch fragte er nicht: Wie müßte eine menschliche Gesellschaft beschaffen sein, damit in ihr ein sinnerfülltes und zugleich sozial integriertes Leben möglich ist – diese Frage stellt erst der späte Frisch –, vorerst beschäftigten ihn nur die Auswirkungen des vorgefundenen Dilemmas auf seine individuelle Subjektivität. Doch beide Fragen, die historisch-politische wie individuell-psychologische, sind Kehrseiten derselben Münze. Dieser Zusammenhang wird wichtig, um zu begreifen, wie in späteren Jahren die zwei angeblich so verschiedenen Max Frischs zusammenhängen: der Dichter der Subjektivität und der politische Essayist und Redner.
Künstler versus Bürger. Jahrzehntelang bemühte sich Frisch um Überwindung dieser Spaltung. Er spielte, sozusagen probehandelnd, verschiedene Möglichkeiten literarisch durch und versuchte sie anschließend oft auch zu leben. Die Lösung, die er 1932 fand und die er mit großer Hartnäckigkeit und am Rande des Existenzminimums auch praktizierte, hieß: freier Journalismus. So hoffte er, Brot und Kunst, Sinn und Lohn produktiv zu koordinieren.
Die Balkanreise
Im Frühjahr 1933 fanden in Prag Eishockeyweltmeisterschaften statt. Frisch erklärte der NZZ-Redaktion, daß er ohnehin fahre, ob er berichten könne. Er konnte. »Ich war stolz darauf, wie ich das gemanagt hatte.«61 Die Reise sollte vierzehn Tage dauern, es wurden acht Monate daraus. Von Prag fuhr Frisch nach Budapest, Belgrad, Sarajewo, ans Meer bei Dubrovnik, über Zagreb nach Istanbul, dann nach Athen, von dort zu Fuß nach Korinth und Delphi, schließlich zurück über Dubrovnik, Bari und Rom. Ende Oktober war er wieder in Zürich.62 Reise und Unterhalt verdiente er sich, mehr schlecht als recht, mit Reiseberichten für die NZZ.
In Budapest versuchte er seinen Wintermantel zu verkaufen und machte dabei die für einen zwinglianisch erzogenen Schweizer aufregende Erfahrung, daß die Ungarn trotz aller Armut nicht verbittern, sondern »gelassen, gemütvoll lächeln: das Leben ist ein Ferienaufenthalt, wo die Figuren vor dem Letzten die Achseln zucken«.63 Aus Sarajewo liefert er ein erstes Beispiel seines später selbstkritisch konstatierten »male chauvinism« (Montauk): Die Verschleierung mache die Frauen erst richtig reizvoll, »heikle Halsausschnitte und schamlose Kurzröcke« bestehlen den Mann, »der immer ein Träumer ist, um alles Erahnen«.64 Aus Serbien berichtete er über Klosterbesuche und zeigte dabei eine frühe Meisterschaft in poetischer Naturbeschreibung: »Überm Wasser kommt ein Hauch, welcher den Seespiegel fleckenweise verkräuselt und mit den Silberpappeln spielt. In langen Uferalleen beginnt jenes Flimmern, wenn die Blätter ihre helle Unterseite aufwenden, und im Schilfblaß platschen schwarze Büffel …«65 Leider erfahren wir wenig über die Klöster selbst, so sehr schieben sich des Autors Empfindungen vor das Objekt. Zur Balkanreise gehörte auch eine Fußwanderung von Athen nach Korinth und Delphi. Sie muß eindrücklich gewesen sein. In verschiedenen Artikeln und im Homo faber berichtete er davon. Dem jungen Wanderer gefielen die Ruinen und die Gastfreundschaft der einfachen Leute, »die zufrieden sind«.66 Wir Westeuropäer, sinnierte er, »können die Handlungen eines Mitmenschen niemals hinnehmen, ohne nach einem heimlichen Zweck zu suchen, weil wir den Glauben verloren haben, daß es bisweilen Dinge gibt, welche kein Geschäft sein sollen und keinen Zweck haben, sondern bloß einen Sinn, welchen wir nun Liebe oder Gastfreundlichkeit nennen mögen«.67
Einfache Leute sind menschlich und zufrieden. Dem konventionellen Menschenbild entsprach ein konventionelles Kunstverständnis. In jedem Marmorbruchstück ahnte der Wanderer die »Vollendung« des Ganzen, er »spürt eine Geschlossenheit, welche die Welt umspannt«, und ein »beglückendes Wohlmaß«.68 Pointiert formuliert: Frisch fiel in Griechenland auf, was Winckelmann hundertfünfzig Jahre zuvor auffällig gemacht hatte. Seine Balkanreise hat er als große Befreiung empfunden. Ich war »ledig jeder Pflicht, frei, bereit für jede Gegenwart; das ist denn auch meine eigentliche Erinnerung an die Jugend …«69
Jürg Reinhart
Der eigentliche Zweck der Reise war nicht journalistischer Natur. Frisch schrieb auf dem Balkan seinen ersten Roman. In ihn gingen manche Beiträge, die er der NZZ schickte, als Episoden ein.70 Der Text ist eine ›Zwischengattung‹: Er reproduziert, in der Tradition des ›sentimental journey‹ wie des Erziehungsromans, die große Balkanreise zwischen Realität und Fiktion. Nach Zürich zurückgekehrt, stellte er den Text im Winter 1933/34 fertig. Unter dem Titel Jürg Reinhart, eine sommerliche Schicksalsfahrt, erschien der Roman im Herbst 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart (dva). Robert Faesi hatte ihn an den renommierten Verlag vermittelt, und Frisch blieb der dva bis zu deren Fusion mit dem nationalsozialistischen Erler Verlag im Jahre 1938 treu.71
Jürg, der Titelheld des Romans, ist in jeder Hinsicht der Doppelgänger des jungen Max. Frisch hat den Text später einen »sehr jugendlichen Roman« genannt, »der ganz im Autobiographischen stecken bleibt«, und »als Autobiographie einfach nicht ehrlich genug, also von daher nicht interessant« ist. Der Held sei eine »romantische« Figur und das Ganze ein »Versteckspiel und eine Beschäftigung mit den ersten jugendlichen Nöten«.72 Das harsche Urteil ist verständlich – als biographisches Dokument hat der Roman allerdings einen wichtigen Stellenwert: Mit ihm beginnt