Dorothee Degen-Zimmermann

Aus dir wird nie etwas!


Скачать книгу

      Auf dem Horburgmätteli trifft man häufig andere Kinder an. Mit denen spielt man Fangis oder Versteckis. Wenn dann um vier Uhr im Schulhaus bei der Drei­rosenbrücke die Pausenglocke klingelt, ist sie das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt gehen nämlich die Kinder in den Schülerhort unter der Brücke. Bevor sie sich an die Hausaufgaben setzen, kriegen sie einen Apfel und ein Stück Brot. Die beiden Brüder stellen sich unauffällig in die Reihe, als gehörten sie dazu, um dann ebenso unauffällig mit der Beute zu verschwinden.

      Im Hinterhof

      Am Abend schauen sie manchmal ins «Amerbach» hinein. Ist der Papa da? Männerstimmen, Lachen und Zigarettenrauch füllen die Gaststube, Päuli kann zuerst gar nichts erkennen.

      «Karli, schau, dein Kleiner sucht dich!», sagt einer.

      Päuli klettert auf Vaters Schoss, hört den Grossen zu und schaut stolz in die Runde. Der Wirt mag den Päuli, stellt ihm manchmal einen Sirup hin oder an einem glücklichen Tag sogar ein Glas Vivi Kola.

degen_papa_richener_wf.tif

      Papa Karl Richener, zirka 1951.

      Ist der Vater nicht da, schauen sie im Hinterhof nach. Hier ist er zwar auch nicht, aber es gibt die Kegelbahn im Säli hinter der Wirtschaft, die sich grosser Beliebtheit erfreut. Die beiden Knirpse halten den Atem an, wenn die schwere Holzkugel sanft über die Bahn rauscht, um dann mit Wucht in die Kegel zu fahren, und sie jubeln mit den Spielern über den wüsten Haufen, den ein Treffer hinterlässt. Das sieht so einfach aus, aber sie schaffen es gerade mal, die schwere Kugel in die Holzrinne zu stemmen, auf der sie zurück zu den Spielern kullert. Dann stellen sie eilig die Kegel auf. Das gibt wieder ein paar Räppler oder ein Glas Vivi Kola.

      Auch einen Schwingkeller gibt es dort. Es riecht nach Schweiss, die Männer ächzen und stöhnen, die Köpfe werden rot, die Halsadern quellen hervor, zum Fürchten. Päuli und Theo machen es ihnen nach, aber es wird eher eine Katzenbalgerei daraus.

      Im Hinterhof hausen auch die Italiener, in einer Holzbaracke mit winzigen Zimmerchen, die über eine Veranda zugänglich sind. Nur im hintersten wohnt eine alte Frau, sie kocht für die Männer Spaghetti oder Minestrone.

      Daneben liegt die Waschküche. Am Morgen wird im grossen Waschhafen eingeheizt, warme Dampfschwaden dringen durch die Türöffnung, in der keine Türe hängt. Es duftet nach Seife.

      Am Abend ist niemand mehr da. Dann klettert Päuli in die wasserbetriebene Zentrifuge. «Theo, anstellen!» Theo dreht den Hahn auf, und das Karussell setzt sich langsam in Bewegung, dreht sich immer schneller, bis Päuli zu schreien beginnt. Theo dreht den Hahn zu und Päuli gibt sich genüsslich dem ausklingenden Schwung hin. «Noch einmal!», verlangt er.

      Manchmal bleiben sie auch viel länger weg von zu Hause, treiben sich noch im Rheinhafen herum, wenn die andern Kinder längst heimgegangen sind. Sie klettern auf den Hausbooten herum, die verlassen an der Mauer vertäut liegen, bis es dunkel wird. Sie kennen sich zwar gut aus im Quartier, aber bei Nacht sehen alle Strassen gleich und fremd aus, sie sind todmüde und verloren. Zwei Polizisten auf ihrem Rundgang wundern sich, um diese Zeit noch Kinder anzutreffen. Doch, diese beiden sind ihnen bekannt. Sie nehmen sie mit auf den Horburgposten, gar nicht weit von der elterlichen Wohnung. Da riecht es einladend nach Suppe, Polizisten im Nachtdienst brauchen auch etwas Warmes. So bekommen die hungrigen, frierenden Kinder einen Teller Suppe, bevor der eine, der Tschudi, sie heimbringt.

      Dort sind sie nicht vermisst worden.

      Die Küche, das Herz der Wohnung

      In Pauls Erinnerung ist die Küche riesengross und er noch sehr klein, vielleicht zwei, drei Jahre alt. Er hockt beim Holzherd auf dem Boden und schichtet konzentriert Zündholz auf Zündholz, zwei längs, zwei quer. Durch die Ritzen der Ofentür sieht man ein schwaches Glimmen. Aus dem Wasserschiff auf dem Herd steigt Dampf auf. Die Luft ist trüb vom Rauch.

      Am langen Holztisch sitzen die Grossen, es wird geschwatzt und gelacht, geraucht, Bier getrunken, gejasst. Der Vater ist da, der eine oder andere von den grossen Brüdern, ein paar Kollegen, der Zimmerherr vielleicht, die alte Frau Weber*, die immer Erdnüsschen knabbert. Päuli sieht fast nur Beine und Füsse.

      Irgendwann verdämmern die Stimmen, Nebel hüllt den Kleinen ein – «Päuli schläft», sagt jemand, hebt ihn hoch und trägt ihn ins Bettchen im Schlafzimmer der ­Eltern nebenan.

      Die Zimmer sind klein. Eines ist vermietet, in den andern rückt die grosse Familie zusammen. Der Abort befindet sich ausserhalb der Wohnung auf dem Zwischengeschoss, Seite an Seite mit demjenigen von Frau Weber. Päuli getraut sich nicht allein dorthin, es ist dunkel im Treppenhaus. Vater nimmt ihn an der Hand, geht mit ihm die Treppe hinunter, setzt ihn auf den Topf und sich selber auf die Kloschüssel. Wenn Frau Weber gleichzeitig im WC nebenan sitzt, nur durch ein dünnes Holzwändchen getrennt, kann das eine längere Geschichte werden, denn dann wird palavert.

      Der Vater ist ein leutseliger, gutmütiger Mensch, bei seinen Kollegen beliebt, ein begabter Fussballer und beim FC Nordstern eine feste Grösse. Mit seiner grossen Familie und seiner unsteten Frau ist er überfordert, finan­ziell und auch sonst. Was er als Isoleur in der Chemischen verdient, reicht nirgendwohin. Wenn ihn die Sorgen bedrängen, versucht er sie mit reichlich Bier auf Distanz zu halten, aber das macht die Sache auch nicht besser.

      Die grossen Geschwister kommen und gehen ihre ­ei­genen Wege. Sonja, die Erstgeborene, fünfzehn Jahre älter als Paul, ist aus seiner Sicht eine erwachsene Frau und manchmal Ersatzmutter, aber auch immer wieder lange Zeit abwesend. Heinz und Carlo sind vor allem in den Ferien zu Hause, aber so genau überblickt Päuli das nicht. Am ehesten schaut noch Fritz, der Zweite in der Geschwisterreihe, zum Rechten. Er arbeitet in der Fabrik wie der Vater.

      Und wo ist Mutter Virginia? Sie ist da oder nicht da. Arbeitet bis tief in die Nacht im Service – «oder was weiss ich». Päuli vermisst sie nicht. Wenn er nur Theo hat.

      Ein geordneter Haushalt existiert nicht. Zu Hause wird nicht regelmässig gekocht, ausser vielleicht am Sonntag. Sonja und Fritz schälen und schneiden kiloweise Kartoffeln, erhitzen das Öl in der grossen Pfanne und hängen das Frittiernetz mit den Kartoffelschnitzen hinein, eins ums andere Mal, bis eine Riesenschüssel voll knuspriger Pommes frites auf dem Tisch steht. Oder die Mamma formt auf dem grossen Holzbrett Gnocchi, dicke, grosse, dazu gibt es eine üppige Bolo­gnesesauce, mehr als fünf oder sechs Stück schafft Päuli nicht.

      Am Sonntagnachmittag kurz vor Ladenschluss lohnt sich ein Besuch in der Bäckerei Dällenbach. Päuli und Theo schlüpfen hinter den Ladentisch und schauen zu, wie Frau Dällenbach die letzten Kunden bedient. Dann packt sie in eine grosse Gugge (Tüte), was sie am Montag nicht mehr verkaufen kann, süsse Weggli, altbackenes Weissbrot, vielleicht sogar ein paar eingedrückte Stück­li. Päuli schaut mit begehrlichen Augen auf das letzte Diplo­mat, eine cremige Schleckerei im weissen, gefältel­ten Papierkörbchen, und Frau Dällenbach versteht. Er verzehrt es auf dem kurzen Heimweg, bevor ihm ein ­anderer dazwischenkommt.

      Barfuss im Sommer

      Da gibt es diese helle Erinnerung an einen Ostermorgen. Päuli schläft jetzt mit den Brüdern im andern Zimmer. Beim ersten Sonnenstrahl wacht er auf, da steht schon der grosse Carlo, der dritte Bruder, an seinem Bett.

      «Ich weiss, wo dein Osternestchen ist!»

      Er lacht triumphierend. Päuli springt aus dem Bett, und Carlo führt ihn zum Versteck unter der Kommode, er hat schon alles ausgekundschaftet. Ein paar Schoggieili sind drin und ein Häschen aus rotem Zucker wie die Schleckstengel, innen hohl. Das schmeckt Päuli am besten.

      Das Schöne am Sommer ist, dass man barfuss gehen kann. Dazu in kurzen Hosen und immer dreckig.

      Zu Päulis Sommervergnügen gehört das Flüsschen Wiese, das, vom Schwarzwald her kommend, auf Schweizer Boden nahe der Landesgrenze dem Rhein zufliesst. Nach dem Mittagessen auf der Exerziermatte machen die zwei Buben