drehe mich um, trete durchs Törchen in den Garten und schlage mich irgendwo im Hintergrund, wo er, von Obstbäumen in hohem Gras verschattet, ans Bahnhofsgelände stösst, in die Büsche. Auf den Gleisen schnupft und pfupft ein Glettiiseli, eine der kleinen zweiachsigen Verschiebeloks.
(Viertes Lebensjahr. Verschwunden der Garten, längst abgerissen Doktorhaus und Bauernhof. An ihrer Stelle stehen heute eine Bank und ein Supermarkt.)
→Alarmsirene und Schlachthaus →Der Grossvater
Zofinger Tagblatt, 1. Mai 1941
Fahrverbot für Automobile
Besessenheit
Ich bin vier oder fünf. Im Spiel fragt mich der Bruder: Was wosch lieber, es guldigs Nüüteli oder es silberigs Waarteli? Dabei hält er beide Hände hinter den Rücken. Ich will das goldene. Er holt die Rechte, zur Faust geschlossen, hervor, ich darf sie öffnen: nichts. Nun, so begnüge ich mich mit dem silbernen. Er holt die linke Hand hervor: wieder nichts. Betrogen! Der Schmerz lässt mich nicht ruhen, bis ich ihn im Traum wettmache.
Meine Eltern haben mir zum Geburtstag ein kleines Beil geschenkt – aus purem Gold. Mich überschwemmt atemloses Glück. Ich trage das Beil im Gürtel. Ich spalte kein Holz damit, denn es ist Zeichen, Würde und Waffe, eine unantastbare Seligkeit. Wenn ich es betrachte oder schwinge, gehe ich in der matt glimmenden Makellosigkeit des Goldes auf. Am Abend lege ich das Wunderding auf den Nachttisch – und erwache. Ich taste im Morgenlicht danach und finde nichts, suche im Bett, unter dem Bett. Mir dämmert, dass ich geträumt habe. Die Trauer über diese Beraubung verschattet mich wochenlang.
Mit sechs Jahren entdecke ich im Taschenkalender des Vaters die vier Mondphasensymbole: schwarze Scheibe mit eingezeichnetem Schlafgesicht für Neumond, senkrecht gestellter Türkenmond, nach links mit lachendem hellem, nach rechts mit griesgrämigem dunklem Gesicht für die zu- oder abnehmende Phase, heller Kreis mit lachendem Gesicht für Vollmond. Sogleich besetzen die Halbmonde meine Vorstellung in einem Mass, dass ich sie in jedem Gegenstand suche und das Bilderbuch vom Mond, der seine Fülle dem Wassermann verkauft, um jede Nacht dessen Gesang lauschen zu können, für kurze Zeit mein Liebling ist. Meine Zeichnungen von Wunderblumen bestücke ich mit Halbmonden; im Schlaf senken sich Monde golden leuchtend zu mir herab und umkreisen mich.
Die kleine Welt meiner Erfahrungen tritt unter den Aspekt des Mondes; er steckt verborgen in allen Formen, ich versenke mich in den Lach- und den Greinmond, begegne dem Gestirn, das meinen Schlaf behütet, in meinen und andrer halbmondförmigen Augen, in Schatten und Sonnenkringeln, Mailänder Backwerk, Anisbrötchen, im Flug der Vögel. Wonne erfüllt mich bei jeder Entdeckung eines weiteren Mondverwandten, als hättʼ ich plötzlich ein Rätsel, mir bisher unbewusst, gelöst.
→Astronomie →Der Bruder →Der weisse Pullover →Statistik
Lumpe legge
Mitgefiebert habe ich, doch in lebhafter oder fröhlicher Erinnerung ist mir kein Kinderspiel.
– Beim Lumpe legge stellte man sich im Kreis auf, blickte einwärts, jemand zählte an, und wen das letzte Wort traf, der lief aussen herum und liess im Rücken eines der im Kreis Stehenden ein Pfand, etwa sein Taschentuch, fallen. Merkte der Beschenkte dies nicht, bevor der Läufer seinen Platz im Kreis wieder eingenommen hatte, musste er das Pfand auflesen und seinerseits aussen herum rennen, um jemand andern zu überlisten. Ich mochte das Spiel nicht, fand es heimtückisch, hasste es, zwischen den zerkratzten Beinen hinter mich zu schielen.
– Unter den Anzählreimen ist mir Ääne dääne dio dee/dio dee di Salomee/Salomee di ggadigga/ggadigga di ggompsa der erste und unvergänglich geblieben, weil ich später erfahren habe, dass im ersten Vers die keltischen Zahlen eins bis vier stecken. Also haben schon die Kinder der Helvetier vor siebzig Generationen diesen Anzählreim heruntergeleiert und mit schmutzigen Fingerchen aufeinander gezeigt – und da hat es mir geschwindelt. Wie ist er damals zu Ende gegangen? Gewiss weder biblisch noch französisch.
– Spielte man Versteckis, legte einer die Hände vors Gesicht und zählte langsam und laut, die andern rannten. Zwanzig, und die Suche begann. Wer zuerst gefunden wurde, hatte die nächste Frist auszuzählen. War der Suchende ausserstande, jemanden aus dem Busch zu klopfen, rief er gedemütigt die Mitspieler aus den Verstecken und musste wieder den Polizisten machen.
– zZiggi war ein Fangespiel, wo der Schnellere immer der Jäger und Angst der Stolz des Wilds war. War ich in die Enge getrieben und presste mich verzweifelt gegen einen Zaun oder ins Gebüsch, berührte mich der Schlag auf die Schulter wie ein kleiner Tod, auch sagt mir eine schwache Erinnerung, beim Ziggi hätten wir mitunter gleich Katzen mehrere Leben mit uns getragen.
Solche Spiele waren mir zuwider wie später das Schnellrechnen in der Schule. Heute scheint mir, dass derlei todernst wie die Kindheit selbst gemeint war, weder Spiel noch Befreiung, auch wenn Niederlagen nicht mit dem Leben, sondern nur mit Fluchten über schwankende Leitern in Alpträumen bezahlt werden mussten.
→Ersticken →Langweil →Schulschock
Kinderspruch
… und eersch dFranzoose
mit de rote Hoose,
mit de gääle Fingge –
schmöggsch wie si stingge?
Bin ich der letzte, der sich erinnert? Die böse Zunge hat ein erschreckendes Gedächtnis. Noch Mitte der vierziger Jahre hörte ich obigen freundnachbarlichen Vers, dessen Entstehung damals schon über siebzig Jahre zurücklag und von dem ich nur den Schluss noch weiss. Dass mir ausgerechnet diese Verse blieben, mag mit der Bereitschaft des Kindes zusammenhängen, sich besser und stärker als andre zu fühlen und sie lustvoll herunterzumachen.
Ein Ausdruck deutschschweizerischer Verachtung und Überheblichkeit angesichts der Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/1871. Die roten Hosen der Infanterie und die gelben, wahrscheinlich naturgegerbten Marschschuhe lebten in Schweizer Kinderhirnen weiter. Es gab also nicht nur das Bourbaki-Panorama und die grosszügige Beherbergung und Durchfütterung der französischen Ostarmee, sondern, untergründig glimmend, die Schadenfreude, dass der grosse Nachbar auf die Nase gefallen und sein Kaiser abgesetzt war. Man gönnte es der grande nation, dass ihre 80000 Mann starke Bourbaki-Armee sich der kleinen Schweiz ergeben und von Schweizern entwaffnen lassen musste. Vermutlich – darauf weist der Beginn – wurden erst die Deutschen, dann die Italiener oder Österreicher und am Schluss die Franzosen aufs Korn genommen.
→Führer →Krieg →Kriegsschuld →Liedgut →Schlagen
Aas
Sonntag. Wir spielen mit Cousins und Cousinen, die zu Besuch sind, vielleicht auch mit den Kindern W. aus dem Nachbarhaus, wo es immer nach abgestandenem Sauerkraut riecht. Auf dem Grasstück zwischen dem Garten von Dr. Ginella und dem Hof des Bauern Aeschbach hat jemand einen Gegenstand versteckt. Nahe dem Zaun wuchert hohes Unkraut, Gebüsch dunkelt. Ich bin am Suchen und habe plötzlich unter den Händen, die das