doch vom Tor her wurden Rufe laut, man solle den schon einmal festnehmen. Und tatsächlich ergriffen sie ihn.
Darauf vernahm man aus der entfesselten Menge:
«Herrgott! Vorwärts, marsch!»
«Vorwärts, marsch, ihr Hundsfotte, sonst bring ich euch alle um!»
Das war Fasola. Völlig ausser sich liess er seinen Stock sausen gegen die, welche, verängstigt von der Trommel, den Schüssen und dem Ruf «Erste Landjägerabteilung – Vorwärts marsch!», der plötzlich ertönte, sich zu verdrücken versuchten, indem sie in die dunklen Felder auf beiden Seiten der Strasse liefen oder zurückwichen. Einem Teil gelang es, in das Dorf einzudringen und einige der Verteidiger zu entwaffnen.
Sie setzten ihren Weg durch die engen Gassen zur Innenstadt hin fort. Unterwegs versuchten Terraneo und Borometta, sie zu beruhigen, und stellten Geld in Aussicht: Sie sollten sich nicht gegenseitig Schaden zufügen, sie seien doch Brüder; so senkte Boffi, der schon zum Schuss angesetzt hatte, weil er zwei oder drei der Seinen unter den Aufständischen erblickte, sein Gewehr.
Die Bande formierte sich auf dem Platz im Karree und gab Acht auf die Fenster, und der Bürgermeister, der beim Brunnen stand, rief:
«Mattirolo, Mattirolo. Was willst du?»
Er näherte sich ihm und nahm ihn unter freundschaftlichem Getue beiseite, hielt ihm eine Predigt: Was sind denn das nur für Sachen! Die gehören sich doch nicht – in der Nacht durch die Dörfer zu ziehen mit so viel bewaffneten Leuten!
Mattirolo sagte, es gebe nichts zu essen; es sei ihre Absicht, ruhig durch den Ort zu ziehen, um den Mais zu beschlagnahmen. Doch seien am Tor Schüsse gefallen. Der Anwalt versuchte ihm zu erklären, dass es zu dieser Stunde und bei so viel Leuten unmöglich sei, Essen zu finden.
«Verfluchte Reiche! Dann will ich dreissigtausend Lire!»
«Das ist zu viel. Wo soll ich sie denn hernehmen?»
«Dann rücke fünfzehntausend Lire heraus, damit man diesen Männern etwas zu essen geben kann!»
«Wo soll ich denn um diese Zeit eine solche Summe finden?»
«Wenigstens hundert Goldzechinen!»
«Unmöglich!»
Und als der Bürgermeister sich ihm am Arm einhängte, stürzten sich die Aufständischen auf ihn, weil sie meinten, er wolle ihn festnehmen. Statt dessen gingen die beiden zum Beinhaus und diskutierten. Bis der Amtsträger schliesslich die Hand in seine Rocktasche steckte und eine Handvoll Münzen herausholte. Er gab sie ihm und fügte bei, er werde auf den Zeitpunkt ihrer Rückkehr aus Capolago ein schönes Geschenk bereithalten.
Mattirolo steckte die Münzen weg, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sie reichten nicht einmal aus für den Schnaps.
Als sie sahen, dass es krumm lief, schlugen viele im Dunkel den Weg nach Torre ein, andere erreichten ihr Dorf auf abgelegenen Pfaden, voll Hunger und Gedanken: So war es also nicht wahr, dass auch die von Mendrisio hätten mitkommen sollen und dass sie es verstehen würden? Oder hatten sie nur eben keinen Mut gehabt, die Schlafmützen? Jemand hatte sogar gerufen: «Vorwärts, brave Kerle, zieht nur durch! Vorwärts, das sind die Unsrigen!» Und man hatte Mattirolo dem Hund von einem Borometta zurufen hören, auch er habe ihn verraten. Weil Mattirolo immer schon an Bewegungen, die der Unterstützung der liberalen Regierung dienten, beteiligt war, hatte er, noch eh sie zu diesem Unternehmen aufgebrochen waren, gesagt, er habe Befehl von den Oberen.
Stand er am Ende nicht unter dem Schutz der Grossen? Der Bürgermeister hatte sich doch vorhin bei ihm eingehängt …
Die Verbliebenen setzten ihren Weg fort nach Capolago. Eingangs Dorf machten sie bei einer Wirtschaft Marschhalt, aber wie sie auch klopften und riefen – nichts. Sie setzten sich am Strassenrand nieder.
Mittlerweile waren Mattirolo und zwei andere zu den Lagerräumen gegangen, um nachzusehen: da war nichts mehr. Die Säcke mit Korn waren bereits mit Booten in Sicherheit gebracht worden. So hatte man das Nachsehen und konnte nur noch Amen dazu sagen.
Da wurden plötzlich Fanfarenstösse laut in der Nacht. Die Fenster öffneten sich da und dort, und die Leute kamen auf die Strasse herunter mit ihren Lichtern und machten sich auf, dem Seeufer entlang: Es waren die Luganeser Truppen, die Musik in Galamontur mit Hahnenfedern auf dem Zweispitz wie für die Karfreitagsprozession. Unter den Klängen eines Militärmarsches setzte sich die Truppe in Bewegung Richtung Mendrisio.
Mattirolo erkannte Maraini, das erste Kornett, wieder und den Hornisten Sirena, die am Marsch von Locarno teilgenommen hatten und später an der Besetzung von Morbio Sotto im Jahre 1843, und er rief ihnen zu, dass sie höllisch falsch spielten: Mochten sie sich für die besten Musikanten des Kantons halten, sie seien halt doch nur lebendige Leichname; es wäre besser, sie würden zurückkehren mit ihrer Trommel, deren Fell allzu schlaff geworden sei und den Marsch der Sieben Makkabäer zu schlagen scheine!
Und weg war er.
Von der Sennhütte bei der Birke war es leicht für einen, der flinke Beine hatte wie Mattirolo, die Fuchs- und Schmugglerpfade zu nehmen: den Weg der Madonnina, den der Höhle, der zu Tre Crocette führt, und danach hinauf über die Höhen gegen den Bisbino. Das war sein Boden. Er konnte sich entlang der Grenze verstecken oder sich bis San Fedele vorwagen, ins Haus des Patrioten Andrea Brenta: Niemand würde ihn verjagen.
Die Kastanien, die Eichen und Buchen liessen zu, dass sein Blick tief zwischen die Stämme und das kahle Geäst eindrang und so die Uniformen der Soldaten sichtete, die gerne wähnen durften, die fünfhundert Lire Kopfgeld zu verdienen …
Er und seine Freunde hatten den bewaffneten Kräften wie der Regierung sagen lassen, dass sie nur kommen sollten, dass sie auf sie warteten. Und der Major Sala hatte sich am Tag nach dem Unternehmen herausgeputzt und war losgezogen an der Spitze einer verstärkten Kolonne.
An der Weggabelung zwischen San Simone und Vacallo hatte ein Schrei Verwirrung unter seinen Leuten gestiftet. Darauf hatte der Major, wie er das völlig verrammelte Wirtshaus des Grazioso sah, aber auch bemerkte, dass ein Fensterladen im ersten Stock aufgehen wollte, Befehl gegeben, auf die Fenster zu feuern. Grazioso, der eben vor dem Stall sein Pferd besorgte, hatte zwar Schritte, Stimmen, die Schüsse und den Lärm von zersplitternden Scheiben gehört, doch galt sein erster Gedanke gleich Mattirolo, der mit ein paar weiteren aus dem Dorf bei ihm aufgetaucht sein mochte, die Doppellaufflinte auf der Schulter, zur Stunde des Katechismus, nur eben so lange, wie’s braucht, ein Glas zu kippen, und um gleich wieder hinaufzusteigen in die schwer zugänglichen Höhen.
Die Soldaten hatten die schönen prallen Mieder von Graziolos Töchter wohlgefällig betrachtet, hatten eine Doppelflinte requiriert und eine mit aufgepflanztem Bajonett, ferner zwei Säbel, ein Gewehr, eine Tasche für die Kugeln mit Messingverschluss und waren dann weitergezogen.
Nachdem Major Sala die Leute aus Vacallo, die den Mund nicht auftaten, befragt und ein paar Häuser durchsucht hatte, ohne irgendetwas zu finden, war er beim Hereinbrechen der Schatten von diesen gefährlichen Örtlichkeiten abgezogen und nach Mendrisio hinuntergestiegen, um seinen Rapport abzufassen.
Wer kannte jene Wälder, jene Höhlen und jene Leute besser als Mattirolo?
Auch die Madonna vom Bisbino war bereit, ihn unter den Mantel zu ziehen, wenn die Häscher kamen, oder ihm mit einem mütterlichen Hinweis ihrer himmelblauen Augen die Nische zu bedeuten, wo er Schutz finden konnte. Oder gar das Wunder vom Feuer zu vollbringen: Kommt der Bandit in einer stürmischen Nordwindnacht in seinen Stoffschuhen auf den Gipfel des Berges, stirbt fast vor Kälte, schichtet neben der Kapelle ein wenig Holz auf; doch er hat nur drei Streichhölzer, und die geben keinen Funken her. Da fällt er vor seinem «Altchen» in die Knie, bittet sie inständig, und – siehe da! – die Flamme entfacht sich, das Feuer wärmt ihn und rettet ihn.
So mögen denn die Soldaten der Bürgerwehr ruhig weiter in den Heustöcken herumstochern mit ihren langen Spiessen, und Lavizzari soll ruhig seine Miteinwohner von Vacallo auch in Zukunft ausfragen, und die Grossräte mögen Reden halten über jene entsetzliche Katastrophe, jenes äusserst schwerwiegende Verbrechen,