Distanz zu gelangen, von vielen »niederen« Tieren geteilt – sogar von Vögeln, trotz des Fehlens des bifokalen Blicks als wesentliche Unterstützung für diese Aufgabe. Das kann man leicht zeigen, indem man Hühner darauf trainiert, beispielsweise zunächst auf die größere von zwei Scheiben zu picken und dann die größeren Scheiben in beträchtlich größerer Distanz von den Vögeln in Beziehung zu den kleineren legt (das heißt, man sorgt dafür, dass die kleineren Scheiben ein wesentlich größeres Netzhautbild hervorbringen). Im allgemeinen müssen die kleineren Scheiben einer Größe auf der Netzhaut entsprechen, die zwanzig- bis dreißigmal größer ist als die größere Scheibe, bevor die Hühner sich zu irren beginnen und in systematischer Weise die falsche Scheibe bevorzugen (Koffka 1935, 85 ff.).
Natürlich könnte dieser Befund, so interessant er für sich genommen auch sein mag, immer noch das Ergebnis von Lernen sein (und damit, zumindest möglicherweise, das Ergebnis eines rein assoziativen Prozesses, wenigstens in dem Maße, in dem man sich irgendein komplexes, erlerntes Verhalten überhaupt in dieser seriellen Weise aufgebaut vorstellen kann). Was Köhler tat, war, drei Monate alte Küken, die ihren Käfig niemals verlassen hatten, darauf zu trainieren, dass sie nur auf größere Scheiben pickten, und dann konfrontierte er sie mit der experimentellen Situation unter Umständen, bei denen man sich kaum vorstellen konnte, dass ihnen ein ähnliches Problem jemals zuvor begegnet war. Gemäß seiner Vorhersage und nun sogar ohne irgendwelche offensichtliche Gelegenheit vorherigen Lernens, zeigten die Küken keinerlei systematische Schwierigkeit beim »Wissen«, dass kleinere Bilder unter bestimmten Bedingungen größere Objekte in größerer Entfernung »bedeuteten« und vice versa. Überdies hielt dieser Befund bis zu Größenrelationen von zwanzig- bis dreißigmal an, vergleichbar jenen für »erfahrene« erwachsene Hühner (Köhler 1915). Entweder ging hier irgendein »angeborener« Organisationsprozess vor sich, oder aber die Fähigkeit der jungen Küken, dieses extrem komplexe Urteilsverhalten auf der Basis scheinbar vernachlässigbarer Erfahrung zu lernen, war so mächtig, dass es auf eine enorm starke Disposition für diese besondere Art des Lernens hinwies – was in etwa auf dasselbe hinausläuft, soweit es die Frage nach der Natur/Erziehung oder der »Vorverdrahtung« betrifft.
In dem Maß, in dem sich die Gestalt auf der Seite der Natur dieser Dichotomie einreihte – wobei der Assoziationismus notwendigerweise auf dem Erziehungspol lag –, hatte die Gestalt die Auseinandersetzung »gewonnen«. Im Rückblick soll hier angemerkt werden, dass sich das Gestaltmodell selbst im Verlauf der Auseinandersetzung und durch die Forschungsergebnisse etwas weiter in Richtung auf den »inneren« Pol einer etwas anderen Dichotomie hinbewegt hatte – das heißt die relative Betonung der »inneren« versus »äußeren« Faktoren in der Gestaltbildung – und damit weg von Wertheimers Forderung nach unabhängigen, objektiven, quantifizierbaren und messbaren Kriterien der »guten Gestalt« in der Umgebung, sofern ein Forscher sie erhalten könnte. Die nächsten Beiträge zur Erweiterung des Gestaltmodells, nämlich die von Kurt Lewin, brachten es noch weiter auf diesem Pfad voran und damit weiter in die Bereiche der Persönlichkeitstheorie und der psychotherapeutischen Anwendung entlang den Entwicklungslinien, die ich hier nachzeichne.
Das Modell Lewins
Lewins Beitrag bestand rückblickend betrachtet darin, dass er das Gestaltmodell aus der Laborsituation herausnahm und auf die viel komplexeren Bereiche des Alltagslebens anwendete. Diese Entwicklung kündigte sich bereits in einem sehr eindrücklichen frühen Text mit dem Titel »Kriegslandschaft« an, den der Autor schrieb, während er noch Dienst an der deutschen Westfront tat (Lewin 1917). Lewins Argumentationsrichtung war folgende: Wenn wir nicht gerade experimentelle Psychologen (oder Versuchspersonen in einem Labor) sind, verschwenden wir nicht viel Zeit unserer Problemlösungsenergie darauf, dass wir einfach still dasitzen und Urteile über Wahrnehmungsszenen bilden, die zweideutig oder sonstwie sind. Viel üblicher und viel instruktiver ist die Situation, bei der wir ein vorgegebenes Feld betreten oder in der wir bereits innerhalb einer bestimmten Umgebung in Bewegung sind, wobei Teile dieser Umgebung auch in Beziehung zu uns oder zueinander in Bewegung sein können. Unsere Aufgabe besteht dann darin, Wahrnehmungsurteile und andere Urteile zu nutzen, um das Feld zu bewältigen oder/und uns durch es hindurch zu bewegen, und dabei versuchen wir, bestimmte Ziele zu erreichen und ungünstige Ergebnisse zu vermeiden.
Nehmen wir beispielsweise die Bewegung einer Person innerhalb der Kriegszone, mit der sich Lewin tatsächlich beim Schreiben dieses Artikels beschäftigte (Marrow 1969). Ganz offensichtlich wird dieses Feld, die ganze Umgebung, von der Person für viel mehr herangezogen und genutzt, denn nicht nur als passiver und neutraler »Grund« für die Bildung von Wahrnehmungs-»Figuren«. Das Feld wird auch nicht nur als Quelle für Zeichen und Schlüssel für komplexe Wahrnehmungsurteile über Größe, Farbe, Identität usw. genutzt, obwohl all diese Prozesse natürlich ständig jederzeit ablaufen. Sondern über all das hinaus oder dem zugrundeliegend wird das ganze Feld oder der Grund vor der Organisation bestimmter Figuren organisiert – und zwar in diesem Fall gemäß der vorherrschenden Bedingung des Krieges. Das heißt, das wahrnehmende (und sich bewegende) Subjekt muss das Feld in eine Art mentale/verhaltensmäßige Landkarte auflösen, indem es (hoffentlich) die wichtigen Punkte für Sicherheit, Gefahr, Schutz, Auswege usw. im Hinblick auf seine eigenen Ziele im Feld hervorhebt. Im Rahmen unserer Gestaltterminologie ist diese Landkarte, diese Konfiguration selbst eine Art Figur, eine organisierte Wahrnehmung oder Gestalt – aber sicherlich eine Figur, die neu und viel komplexer organisiert ist, auf die und in Bezug auf die andere Figuren projiziert und ausgewertet werden. Nicht nur ein einzelnes begrenztes »Objekt« oder Bild (dessen Gestaltmerkmale mit den Reizen à la Wertheimer gegeben sein mögen), das aus einem neutralen Grund ohne gegenwärtige Bedeutung heraustritt, sondern vielmehr eine strukturierte Reihe solcher »Subfiguren« in lebendiger und sich verändernder Beziehung zueinander, zum »Grund« um sie herum und vor allem zu dem Subjekt selbst, während dieses sich bewegt oder unter ihnen wählt. Außerdem ist es diese Figur, diese Gestalt oder Landkarte und nicht irgendein undifferenziertes Feld, das dann im Laufe der Zeit als Grund für verschiedene aufeinanderfolgende Figuren dient – und das wiederum durch sie verändert werden kann, während sie auftauchen oder im Feld ausgewählt werden. Das heißt, die Wahrnehmungsgestalten in den »realen Lebenssituationen« tauchen nicht auf, verschwinden und folgen einander in linearer (oder »assoziativer«) Abfolge wie in der Laborsituation, sondern sie dauern an, koexistieren miteinander und interagieren in einer dynamischen und sich wechselweise strukturierenden Art.
Nehmen wir beispielsweise die Figur eines Heuschobers innerhalb oder gegenüber der Gestalt oder Landkarte der »Kriegslandschaft«. Je nach den momentanen Zielen des Subjekts – Überleben, Eroberung, Flucht, Wiedererkennen, Nahrungssuche, Rast usw. – kann der gleiche Heuschober als Bedrohung oder Schutz, als Deckung oder Hindernis wahrgenommen werden. Und noch darüber hinaus: Sein Wert und sogar seine Identität werden auf unterschiedliche Weise wahrgenommen, je nach dem, wo und wie es in Beziehung zu anderen wahrgenommenen Objekten auf der »Landkarte« liegt – Sichtlinien, Kampflinien, Distanz und Zugang usw. Wenn der Heuschober auf diese Weise wahrgenommen und lokalisiert wird (und der Definition zufolge evaluiert/kategorisiert wird), wird er zu einem Teil des veränderten und organisierten Grundes oder der Landkarte, und neue Figuren können dann in Beziehung dazu auftauchen. Wenn die Person zur Kampftruppe gehört, kann das ganze Feld oder die Landkarte zielorientiert – oder in Lewins späterem Ausdruck vektoriell (Lewin 1951) – in Beziehung zu den gegenläufigen Vektoren des Schlachtfeldes mit sich verändernden Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen organisiert werden. Wenn die Person nicht zu den Kämpfenden gehört oder ein Deserteur oder ein Soldat auf Urlaub oder verliebt ist und seinen Weg durch das Kriegsgebiet zu einem Rendezvous sucht, wird die ganze Landkarte des Feldes entsprechend nach deren besonderen Interessen und Zielen reorganisiert werden.
Mit anderen Worten und um Lewins späteren, eleganten Ausdruck zu verwenden: Das Bedürfnis organisiert das Feld (1926). Alles, was im Feld wahrgenommen wird, stuft das Subjekt entweder als bedeutsam oder bedeutungslos ein, je nach den eigenen Bedürfnissen, und lädt es dann auf oder misst ihm einen positiven oder negativen Wert bei, je nachdem, ob das Wahrgenommene als potentielle Hilfe oder als Hindernis bei der Befriedi gung dieser Bedürfnisse wahrgenommen wird. Darüber hinaus werden untergeordnete Ziele und Figuren in Beziehung zu Zielen und anderen Figuren »höherer Ordnung« organisiert – wobei die »höchste«