Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie


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durch Lektüre und Studium, sondern durch Institutionen, Gewohnheiten und mündliche Überlieferung, und sein entscheidendes Merkmal, im Gegensatz zu der Texttreue und Mnemosyne des Historismus, ist unaufhörliche Weiterbildung des überlieferten Stoffes und Vergessen seiner Ursprünge. Es war die Bildung und gebildete Gelehrsamkeit, die tatsächlich abbrach; von den großen Autoren der Antike erhielt sich gar keine oder doch nur eine wirre, immer mehr verblassende Vorstellung. VergilVergil macht als einziger eine Ausnahme; zwar wird auch bei ihm die wirkliche Kenntnis seines Lebens und seines Werkes verworren und ungenau; sie unterliegt, wie die gesamte antike Überlieferungsmasse, sonderbaren und unerwarteten Umbildungen, aber gewisse Elemente seines Wesens bleiben lebendig wirksam, er wird zu einer populären Sagenfigur, die bei aller Entfernung von dem Urbild doch nie ganz die Verbindung zu ihm verliert und die schließlich, in der Danteschen Gestaltung, in tieferer Wahrheit und reinerer Treue zu ihm zurückfindet, als die nur gelehrte und positiv exakte Forschung es vermocht hätte. Dieses außergewöhnliche und mit keinem anderen antiken Schriftsteller vergleichbare Schicksal VergilsVergil hat schon sehr früh das Interesse der modernen Forschung erregt; seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als noch niemand daran dachte, sich mit dem mittelalterlichen Fortleben der Antike zu befassen, erschienen eine ganze Anzahl von Schriften über den Gegenstand, und die Summe dieser Forschungen zog Domenico ComparettiComparetti, D. in seinem 1872 erschienenen Buche Virgilio nel medio evo, das noch heute viel benutzt und zitiert wird; seine Gelehrsamkeit und bedeutende Materialkenntnis wird aber beeinträchtigt durch ein politisches Vorurteil und noch mehr durch die mangelnde innere und äußere Gliederung des gewaltigen Zeitraums «MittelalterMittelalter».

      Der fast paradoxe Tatbestand, daß gerade der durch Bildung, Erudition, formale Kultur und gesellschaftliche Stellung gleichmäßig ausgezeichnete und durchaus nicht im gewöhnlichen Sinne populäre VergilVergil zu einem Dichter des Volkes und schließlich zu einer Sagengestalt wurde, hat zunächst äußere Ursachen. VergilVergil war der Dichter des römischen Weltreichs; er setzte an die Stelle des alten römischen Nationalgefühls, das in seiner stadtstaatlichen Beschränkung und seiner italischen Bauerntugend längst seine Geltung verloren hatte, die Ideologie von der Weltmission Roms; er vollendete die Verknüpfung der politischen Lage seiner Zeit mit der sagenhaften Urgeschichte der alten Welt und schuf den Mythos eines planvollen göttlichen Weltlaufs mit dem Ziel der pax romanaPax Romana, des universalen Friedens unter cäsarischer Herrschaft. Durch diese seine Bedeutung gelangte er in den Elementarunterricht und behauptete darin ganz natürlich den ersten Platz, solange das ImperiumImperium Romanum des weströmischen Reiches bestand. Inzwischen war er zu einer gleichsam mechanischen Popularität gelangt, der Unterricht in der Grammatik beruhte vielfach auf Beispielen aus seinem Text und auf Kommentaren zu seinem Werk. Der Schulbetrieb des Elementarunterrichts hielt ihn aufrecht in den freilich nicht allzu langen Zeiträumen, in denen der eigentliche Gehalt seiner Dichtung bedeutungslos war. Diese Zeiträume waren kurz, vielleicht ist in manchen Gegenden Italiens, in Neapel ganz gewiß, die inhaltliche Wirkung nie ganz verlorengegangen. Der Traum vom römischen Weltreich war sehr bald von den Barbarenvölkern aufgegriffen worden, und seine Verbindung mit politischen Plänen und apokalyptischen Visionen während des ganzen MittelaltersMittelalter ist gerade in letzter Zeit mehrfach dargestellt worden. Sie beruht auf der eigentümlichen Doppelstellung Roms als traditioneller Inhaberin der irdischen Weltherrschaft und als Sitz des Nachfolgers Petri. Und von neuem schien gerade das Werk VergilsVergil die Idee des sacrum imperiumsacrum imperium zu legitimieren und die planvolle Kontinuität der Weltgeschichte zu erweisen. Die allegorischeAllegorie Ausdeutung, die im SpiritualismusSpiritualismus der Spätantike und des ganzen Mittelalters eine so große methodische Bedeutung besitzt, hatte sich seiner bemächtigt und fand schon seit dem vierten Jahrhundert in den Versen der vierten Ekloge, die den Anbruch eines neuen glücklichen Weltzeitalters verkünden, eine Prophezeiung des bevorstehenden Erscheinens Christi. Allmählich wurde so VergilVergil gleich der Sibylle zu einem heidnischen Propheten, zu einem heimlichen Christen oder doch wenigstens zu einem unbewußt inspirierten Künder der göttlichen Wahrheit. Sein auch in einem heutigen Sinne berechtigter Ruhm als eines Dichters, dem tiefste und geheimste Weisheit anvertraut ist, hat diesen frommen Irrtum vorbereitet und bestärkt; der Gang in die Unterwelt im sechsten Buch der Aeneis und die überall in seine Dichtung verflochtenen eschatologischen Mythen umgaben seine Person mit dem Nimbus des Magiers, dem die Geister der Höhe und der Tiefe zu Dienst stehen; in der neapolitanischen Lokaltradition (deren Spuren sich später weit verbreiteten) wurde er zu einer Art Schutzheiligen oder Schutzgeist der Stadt, zu einem echten Zauberer, dessen große und wohltätige Magie rein praktischen Zwecken diente. Als Weiser und als Prophet Christi galt er allgemein, und aus dieser Voraussetzung erklärt sich die Wirkung, die er auf die weltgeschichtliche Spekulation des späten MittelaltersMittelalter ausübte. Der Dichter des römischen Kaisertums und Verkünder der christlichen Wiedergeburt schien ein Zeuge für die Deutung des Wortes von der erfüllten Zeit; der Heiland war erschienen, als die Zeit erfüllt war, als die Welt unter Cäsars Herrschaft den Frieden gefunden hatte; dies schien der natürliche Zustand der irdischen Welt, sie würde genesen und bereit sein für Christi Wiederkunft, wenn sie von neuem geeint unter kaiserlicher Herrschaft im Frieden leben dürfte. So etwa ist der allgemeinste Ausdruck der Lehren, die gerade zur Zeit des endgültigen Verfalls des mittelalterlichen Kaisertums leidenschaftlich verfochten wurden; unter den Streitschriften, die sie vertreten, ist DantesDante Monarchie die bedeutendste und berühmteste, und eines der vielen Gesichter der Komödie selbst ist das einer Streitschrift für das vergilische Weltkaisertum.

      Inzwischen aber war den Menschen eine andere Bedeutung VergilsVergil, die eigentlich künstlerische, reiner greifbar und zugänglich geworden. Es ist bedeutsam und lehrreich, daß der MinnesangMinnesang zu den Werken der damals bekannten antiken Dichter keine unmittelbare Beziehung fand, daß ihm sogar OvidOvid nichts bot als Stoff – daß aber seine Begegnung mit VergilVergil die Dichtung der Göttlichen Komödie erzeugte und damit wohl das folgenreichste Ereignis der nachantiken Dichtungsgeschichte wurde. «Von dir allein», sagt DanteDante zu VergilVergil, «empfing ich den schönen Stil, der mir Ehre brachte.» Hier schließt sich der Kreis des vergilischen Geschicks. Er war ein Bauernsohn, aus einem Landstädtchen bei Mantua; ländlich sind die ersten Gegenstände seiner Dichtung; die reine und formvolle Einfachheit des italischen Landes und die Sitten seines maßvollen Lebens begleiteten ihn auf den Höhen der gesellschaftlichen Stellung, die er erreichte, und ihr Geist lebt in den gelehrten und mythischen Tiefen seines Werkes. Seine kunstvolle und von den Geheimlehren der Mittelmeervölker durchtränkte Dichtung traf so sehr das allgemeinste Gefühl, daß an ihr jahrhundertelang den Kindern die Norm der Muttersprache gelehrt wurde und daß sie noch lange darüber hinaus, weit mehr als ein Jahrtausend nach seinem Tode, die Phantasie der Menschen entzündete. Und als die neuen Völker eine eigene Dichtung geschaffen hatten, da war es die Macht der vergilischen Form, der es gelang, die neuen Kräfte unter sich und mit der europäischen Überlieferung zu verbinden. Um das zu erweisen, ist es nötig, das Wesen der eigentlich poetischen Erziehung, die DanteDante durch VergilVergil empfing, deutlich zu machen. DanteDante stammt aus einer Bewegung italienischer Poesie, die er den Süßen Neuen Stil nannte und die mit einer in der Dichtungsgeschichte beispiellosen Plötzlichkeit des Wachstums aus dem Nichts die Vollendung zauberte. Die Blüte mittelalterlicherMittelalter Dichtung, die im ersten Viertel des zweiten Jahrtausends auf französischem, deutschem und spanischem Boden entstand, war Italien fremd geblieben; es gab dort, einige späte und unbedeutende Nachahmungen ausgenommen, weder VolkseposVolksepos noch höfischen RomanRoman (höfischer) noch MinnesangMinnesang. Erst im dreizehnten Jahrhundert entstand in Mittelitalien aus der franziskanischen Bewegung eine besondere Form der religiösen Volksdichtung, die LaudenLauden. Und ebenfalls in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts erscheint die aristokratische Liebesdichtung des Neuen Stils, zu der DantesDante Jugendwerke gehören und aus dem auch die Komödie entstand. Die Quellen des Neuen Stils, der eine Art des MinnesangsMinnesang darstellt, liegen in der provenzalischen LyrikTroubadourdichtung, besonders in ihren späteren Dichtern, die an Stelle der vergleichsweise naiven und scheinbar voraussetzungslosen Frische ihrer Vorgänger eine komplizierte Dialektik des Gefühls und eine Sprache in dunklen und sonderbaren Bildern bevorzugten. Auch die Dichtung des italienischen Neuen Stils ist dunkel; ihre Dunkelheit scheint weniger launenhaft, systematischer und in engerer Beziehung zu den Methoden der zeitgenössischen scholastischen PhilosophieScholastik; aber trotzdem sind die meisten