je crois que j’ai rassemblé les éléments généraux les plus communs de l’homme sensible moderne, de ce que l’on pourrait appeler la forme banale de l’originalité.59
c) Die Entdeckung des ekstatischen Erlebnisses der Großstadt (Journaux intimes. Les Foules)
Im 19. Jahrhundert war Paris neben London die bedeutendste europäische Großstadt. In den 1830er und 40er Jahren war es in Frankreich zu einem beliebten literarischen Thema geworden. Im Zentrum dieses ‚Stadtdiskurses‘ stand die im 18. Jahrhundert aufgekommene, in zahlreichen Sammlungen sich entfaltende Feuilletongattung des „tableau de Paris“, in der ein buntes Bild der Stadt, ihrer Einrichtungen und ihrer Bewohner gezeichnet wurde1. Zur selben Zeit wurde die Stadt zum Gegenstand der dichterischen Imagination und es entstand der „Mythos von Paris“. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte Balzac, der in seinen „Physiologien“ dem „tableau“ eine neue Form gab und es bald in erzählende Texte überführte, zunächst in kürzere Erzählungen, dann in Romane, die er als Paris-Dramen konzipierte und zur Comédie humaine ausweitete2. 1831/1832 veröffentlichte Victor Hugo seinen Roman Notre-Dame de Paris über das mittelalterliche Paris, in dem gemäß der romantischen Forderung des Verfassers das Sublime neben dem Grotesken stand3. 1862 ließ er den sozialutopischen Gegenwartsroman Les Misérables folgen mit einer unverkennbaren Nähe zum feuilletonistischen Unterhaltungsroman, in dem das Paris-Thema inzwischen heimisch geworden war.
Auch die Lyrik trug zum Paris-Mythos bei und entwickelte nach 1830 ein breites Themen-, Motiv- und Bildrepertoire der Stadt. In den 40er Jahren flaute das Interesse ab, um mit dem Stadtumbau durch Haussmann und der Weltausstellung 1855 von neuem zu erwachen4. Neben Romantikern wie Alfred de Vigny und der Nacht-Bohème um Gérard de Nerval ist hier wieder Victor Hugo zu nennen, der im Exil seine Liebe zu Paris entdeckte5, sowie eben Baudelaire, dessen erste Versuche mit Großstadtgedichten in die 40er Jahre zurückreichen. Mit dem erklärten Anspruch auf „modernité“ ging Baudelaire aber bald über den allgemeinen Zeittrend hinaus und nahm dabei jenseits des persönlichen Erfahrungsraums Paris die Großstadt generell in den Blick.
Eine zeitgemäße Großstadtlyrik verlangte nach Baudelaire Gegenstände, die seinen ästhetischen und anthropologischen Überzeugungen vom Schönen entsprachen und ihn in den poetischen Schaffensrausch versetzen konnten. Im Ringen um solche Gegenstände hat Baudelaire sich unter anderem bei den bildenden Künsten umgesehen. So bewunderte er im Salon de 1859 die Wiedergabe von Paris in den Stichen Méryons:
J’ai rarement vu représentée avec plus de poésie la solennité naturelle d’une ville immense. Les majestés de la pierre accumulée, les clochers montrant du doigt le ciel, les obélisques de l’industrie vomissant contre le firmament leurs coalitions de fumée, les prodigieux échafaudages des monuments en réparation, appliquant sur le corps solide de l’architecture leur architecture à jour d’une beauté si paradoxale, le ciel tumultueux, chargé de colère et rancune, la profondeur des perspectives augmentée par la pensée de tous les drames qui y sont contenus, aucun des éléments complexes dont se compose le douloureux et glorieux décor de la civilisation n’était oublié.6
Méryons Darstellungen der Stadt erschienen ihm in ihrer Majestät und Großartigkeit höchst poetisch, himmelstürmend und erdzugewandt zugleich mit ihren mächtigen Steinmassen, den Kirchtürmen und Schloten, den Wunderwerken der Baugerüste, deren paradoxe durchbrochene Schönheit die solide Schönheit der Architektur verdoppelte, dem dräuenden Himmel darüber und den in die Tiefe führenden gestaffelten Perspektiven, die den Betrachter zum Phantasieren der vielen in ihnen ablaufenden Dramen anregten. Eine solche „Stadtlandschaft“ hatte er selbst 1857 in dem Gedicht Paysage (parisien) dargestellt, wobei er auch des allfälligen menschlichen „drame“ gedachte7.
Literarische Stadteindrücke, bei denen der Mensch im Mittelpunkt stand und die dazu noch mit dem Drogenthema verbunden waren, fand er in den Confessions of an English Opium-Eater (1821/1822) von Thomas De Quincey. In diesem Werk, das Baudelaire seit 1857 teils übersetzte, teils paraphrasierte und analysierte8, berichtet der Ich-Erzähler, wie er sich in das „fourmillement de la grande ville regorgeante d’activité“ stürzt, um am Treiben der unüberschaubaren Vielzahl und Vielfalt der Menschen teilzunehmen:
De tout temps […] je m’étais fait gloire de converser familièrement, more socratico, avec tous les êtres humains, hommes, femmes et enfants, que le hasard pouvait jeter dans mon chemin; habitude favorable à la connaissance de la nature humaine, aux bons sentiments et à la franchise d’allures qui conviennent à un homme voulant mériter le titre de philosophe.9
Solcher „méditation“ inmitten des „tourbillon de la grande cité“ geht der „philosophe de la rue“ anfangs zusammen mit Ann, einer „péripatéticienne de l’amour“, nach, mit der er sich in der großen Stadt zusammengetan hat10. Später, als er die Wohltaten des Opiums kennengelernt hat, sucht er samstagabends, unter dem Einfluss der Droge, nicht die ihm inzwischen ans Herz gewachsene Oper auf, wo er sich an der Stimme einer bekannten Sängerin und an den fremdsprachigen Klängen des weiblichen Publikums berauschen könnte, sondern wendet sich den Ärmsten der Stadt zu:
These were my opera pleasures; but another pleasure I had, which, as it could be had only on a Saturday night, occasionally struggled with my love of the opera; for, in those years, Tuesday and Saturday were the regular opera nights. […] This pleasure, I have said, was to be had only on a Saturday night. What, then, was Saturday night to me more than any other night? I had no labours that I rested from; no wages to receive; what needed I to care for Saturday night, more than as it was a summons to hear Grassini? […] And yet so it was, that, whereas different men throw their feelings into different channels, and most men are apt to show their interest in the concerns of the poor chiefly by sympathy with their distresses and sorrows, I at that time was disposed to express mine by sympathising with their pleasures.11
Bis in die entferntesten Viertel geht er ihnen nach, um ihre bescheidenen Wochenendfreuden, ihre Hoffnungen und ihre Schicksalsergebenheit mitzuerleben und zu genießen. Unter der Wirkung der Droge steigert sich seine angeborene Neigung zu „charité et […] fraternité universelles“ zu einer Haltung, die Baudelaire als „dilettantisme de la charité“ bezeichnet und damit dem Liebhabertum in den Künsten gleichgesetzt:
Mais quelquefois, le samedi soir, une autre tentation d’un goût plus singulier et non moins enchanteur triomphait de son amour pour l’opéra italien. La jouissance en question, assez alléchante pour rivaliser avec la musique, pourrait s’appeler le dilettantisme dans la charité.12
Der durch die Droge beförderte Genuss („jouissance“) der Anteilnahme am Anderen konkurriert hier unmissverständlich mit dem Genuss, den die Künste gewähren.
Sein eigenes, ganz ähnlich geartetes Erlebnis der Großstadt hat Baudelaire in mehreren Anläufen geklärt. Ein erster theoretischer Schritt dürfte eine Notiz in einem Entwurf des Art philosophique gewesen sein, mit dem er sich etwa zu derselben Zeit beschäftigte:
Le vertige senti dans les grandes villes est analogue au vertige éprouvé au sein de la nature. – Délices du chaos et de l’immensité. – Sensations d’un homme sensible en visitant une grande ville inconnue.13
Die in großen Städten erfahrbare Ekstase („vertige“) ist von derselben Art wie die von einem Naturschauspiel ausgelöste, da der Anblick einer unbekannten Großstadt die gleichen Empfindungen von Chaos und Unendlichkeit wie das Naturschauspiel erzeugt und beim Besucher ein ekstatisches Entzücken bewirkt: „Délices du chaos et de l’immensité.“ Hinter der überraschenden Vorstellung von der beglückenden Wirkung des Chaos kann man eine Argumentation von Joseph de Maistre vermuten, dessen Soirées de Saint-Pétersbourg Baudelaire spätestens seit 1852 bekannt waren14. Nach de Maistre ist Unordnung eine Abweichung von Ordnung, setzt diese also voraus, weshalb „désordre“ geradezu die Vorstellung einer ordnenden Intelligenz hervorruft:
Ils parlent de désordre dans l’univers; mais qu’est-ce que le désordre? c’est une dérogation à l’ordre apparemment; donc on ne peut objecter le désordre sans confesser un ordre antérieur,