Elisabeth Schulze-Witzenrath

Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute


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sa profession, c’est d’épouser la foule“). Sie erreichen hier jedoch nicht den Intensitätsgrad, den sie in Les Foules hatten („cette ineffable orgie“, „cette sainte prostitution de l’âme“). Stattdessen kommen moderne technische Vergleiche für das spannungsvolle Verhältnis von Menge und darstellendem Künstler hinzu:

      Ainsi l’amoureux de la vie universelle entre dans la foule comme dans un immense réservoir d’électricité. On peut aussi le comparer, lui, à un miroir aussi immense que cette foule; à un kaléidoscope doué d’une conscience, qui à chacun de ses mouvements, représente la vie multiple et la grâce de tous les éléments de la vie. (S. 692)

      Das „immense réservoir d’électricité“ ist die unerschöpfliche Inspirationsquelle, welche die Menge als eine den Enthusiasmus fördernde Umgebung und als Themenreservoir darstellt, während Guys selbst mit einem riesigen Spiegel und einem mit Bewusstsein versehenen Kaleidoskop verglichen wird, das mit jeder Bewegung die Vielfalt und Schönheit des Lebens wiedergibt. Die Vergleiche mit Spiegel und Kaleidoskop23 unterstreichen, dass der Maler ein der äußeren Realität zugewandter Augenmensch ist, der die „choses visibles, tangibles, condensés à l’état plastique“ liebt und sie wiedergibt, wie sie sich ihm zeigen. Der Dichter in Les Foules lebte dagegen vor allem in und von seiner Phantasie, mit deren Hilfe er den Menschen ergründete („entrer dans le personnage de chacun“). Das lässt die erotischen Metaphern in seinem Fall angebrachter erscheinen. Grundsätzlich gleichen sich jedoch Maler wie Dichter in ihrer künstlerischen Hingabe an die Menge und im Enthusiasmus, den diese in ihnen entfacht.

      Der Augenmensch in Guys wird auch erkennbar, wenn beschrieben wird, wie er die Schönheit der Großstadt und ihrer Menschen wahrnimmt und wie er darüber in den enthusiastischen Zustand gerät. Kaum ist er am Morgen erwacht, stürzt er sich in das taghelle Leben der Großstadt.

      „Quel ordre impérieux! quelle fanfare de lumière! […] Que de choses éclairées j’aurais pu voir et que je n’ai pas vues!“ Et il part! et il regarde couler le fleuve de la vitalité, si majestueux et si brillant. Il admire l’éternelle beauté et l’étonnante harmonie de la vie dans les capitales, harmonie si providentiellement maintenue dans le tumulte de la liberté humaine. Il contemple les paysages de la grande ville, paysages de pierre caressés par la brume ou frappés par les soufflets du soleil. Il jouit des beaux équipages, des fiers chevaux, de la propreté éclatante des grooms, de la dextérité des valets, de la démarche des femmes onduleuses, des beaux enfants, heureux de vivre et d’être bien habillés; en un mot de la vie universelle. Si une mode, une coupe de vêtement a été légèrement transformée, si les nœuds de rubans, les boucles ont été détrônés par les cocardes, si le bavolet s’est élargi et si le chignon est descendu d’un cran sur la nuque, si la ceinture a été exhaussée et la jupe amplifiée, croyez qu’à une distance énorme son œil d’aigle l’a déjà deviné. (S. 692f.)

      Die einleitende „fanfare de lumière“ und die „choses éclairées“ kündigen die Nähe der Ekstase an. Die Wendungen „Il admire“, „Il contemple“ und „Il jouit“ benennen nacheinander das Staunen, die ebenso intensive wie präzise Wahrnehmung in diesem Zustand und das Genießen der Schönheit, Vielfalt und Buntheit, die sich vor den Augen des Künstlers entfaltet. Er bewundert die „ewige Schönheit“ des großstädtischen Lebens und entdeckt im „Tumult der menschlichen Freiheit“ die von der Vorsehung garantierte „überraschende Harmonie“24. Zugleich genießt er die sichtbare „moderne“ Schönheit der Gespanne und der stolzen Pferde, der korrekten Bediensteten, das Auftreten sich wiegender Frauen und lebensfroher schöner Kinder. Keine noch so geringe Neuerung der Mode entgeht seinem Blick25. Aber er betrachtet auch sinnend die „Landschaften“ der Stadt, ihre „paysages de pierre caressés par la brume ou frappés par les soufflets du soleil“ – alles, was sich dem Auge bietet, nimmt er beglückt wahr. Schließlich zeigt Baudelaire an einem konkreten Geschehen, wie die Ekstase in den schöpferischen Enthusiasmus umschlägt und die Wahrnehmung des Künstlers sich zur Vorstellung eines künftigen Werkes ordnet:

      Un régiment passe, qui va peut-être au bout du monde, jetant dans l’air des boulevards ses fanfares entraînantes et légères comme l’espérance; et voilà que l’œil de M.G. a déjà vu, inspecté, analysé les armes, l’allure et la physionomie de cette troupe. Har­nachements, scintillements, musique, regards décidés, moustaches lourdes et sérieuses, tout cela entre pêle-mêle en lui; et dans quelques minutes, le poème qui en résulte sera virtuellement composé. Et voilà que son âme vit avec l’âme de ce régiment qui marche comme un seul animal, fière image de la joie dans l’obéissance! (S. 693)

      Der Enthusiasmus entzündet sich an einem Regiment, das zufällig vorbeimarschiert und sich seinerseits, wie die festliche Menschenmenge in Fusée I, in einem ekstatischen Rausch befindet, in dem aus den Vielen eine Einheit geworden ist: „ce régiment qui marche comme un seul animal, fière image de la joie dans l’obéissance!“ Alle sicht- und wahrnehmbaren Details dieses Auftritts nimmt Guys „pêle-mêle“ in sich auf, und bildet binnen weniger Minuten aus ihnen ein virtuelles „poème“. „Poème“ ist hier Metapher für die Idee des Kunstwerks, die „idée génératrice“, die im Enthusiasmus entsteht.

      Der Szene liegt ein doppeltes ekstatisches Erlebnis zugrunde, das des Künstlers und das des Regiments. Diese Verdoppelung ist nicht zwingend, doch ist der Enthusiasmus mitsamt dem aus ihm resultierenden Kunstwerk die genuine Form, in der ein Künstler am Leben und an der Ekstase Anderer Anteil nimmt. Die Verdoppelung lässt klar den Unterschied der Ekstasen erkennen: auf der einen Seite die spirituelle Ekstase des nachempfindenden Künstlers, auf der anderen der animalische Rausch des marschierenden Regiments. Entscheidend ist der Gegenstand, zu dem die Seele sich jeweils erhebt oder hinabsinkt: „Et voilà que son âme vit avec l’âme de ce régiment“, „ce régiment qui marche comme un seul animal“. Diesen Unterschied der Ekstasen hat Baudelaire immer wieder betont26.

      Am Abend dann, wenn Andere sich von der Mühsal des Tages erholen, lässt Guys in demselben Zustand der Begeisterung, in den ihn der Anblick der Dinge versetzt hat – „dardant sur une feuille de papier le même regard qu’il attachait tout à l’heure sur les choses“ – das Gesehene auf dem Papier wieder erstehen:

      Maintenant, à l’heure où les autres dorment, celui-ci est penché sur sa table, dardant sur une feuille de papier le même regard qu’il attachait tout à l’heure sur les choses, s’escrimant avec son crayon, sa plume, son pinceau, faisant jaillir l’eau du verre au plafond, essuyant sa plume sur sa chemise, pressé, violent, actif, comme s’il craignait que les images ne lui échappent, querelleur quoique seul, et se bousculant lui-même. Et les choses renaissent sur le papier, naturelles et plus que naturelles, belles et plus que belles, singulières et douées d’une vie enthousiaste comme l’âme de l’auteur. La fantasmagorie a été extraite de la nature. Tous les matériaux dont la mémoire s’est encombrée se classent, se rangent, s’harmonisent et subissent cette idéalisation forcée qui est le résultat d’une perception enfantine, c’est-à-dire d’une perception aiguë, magique à force d’ingénuité!27

      Das geht nicht ohne heftigen Kampf mit Bleistift, Feder und Pinsel und auch mit sich selbst ab in dem eifrigen Bemühen, die gesehenen Bilder nicht zu verlieren. Und die Dinge werden auf dem Papier schöner und natürlicher wiedergeboren, als sie in der Wirklichkeit waren, lebendig wie die enthusiastische Seele ihres Schöpfers. Schließlich ist das von der Phantasie geschaffene Bild der Wirklichkeit abgerungen und die Vielzahl der von einer kindlich unverbrauchten, magischen Wahrnehmung aufgenommenen Eindrücke zu einem harmonischen und idealen Ganzen geordnet.

      Die Darstellung von Guys’ Inspiration und Schaffen zeigt noch einmal das Wirken der Phantasie beim Maler, wo sie, anders als beim Dichter, nicht schon in der Wahrnehmungsphase, sondern erst in der Phase der Komposition, der „idée génératrice“ bzw. der „fantasmagorie“, aktiv wird, wenn sie die Wirklichkeit ordnet und über sich hinauswachsen lässt. Ansonsten deckt sich das Erleben und Verhalten des Malers in der Menschenmenge mit dem des Dichters in Les Foules. Eine Darstellung des enthusiastischen Miterlebens des Künstlers, also der doppelten Ekstase wie hier, ist freilich eher im sprachlichen