Sylvie Méron-Minuth

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht


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gymnasiale Fremdsprachenunterricht in Deutschland der Forderung Europas nach Mehrsprachigkeit gerecht werden, und die Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen integrieren kann, ist ein historisch-sprachenpolitischer Überblick notwendig.

      Daran anknüpfend werden aus der Fachliteratur einleitend die Terminologie der Zwei- und Mehrsprachigkeit und in der Folge Ausführungen zu der gesellschaftlichen und individuellen Mehrsprachigkeit einer näheren Untersuchung unterzogen, die für die vorliegende Studie relevante (Teil-)Aspekte darstellen. Anschließend werde ich für die vorliegende Untersuchung gemäß verschiedener Diskurse aus der Forschung eigene Aspekte meines Verständnisses von Mehrsprachigkeit entwickeln.

      Vor dem Hintergrund dieser Definitionen wird darauf das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik, ihre Ansätze und Projekte samt zentralen Zielsetzungen geschildert. Ein besonderer Blick wird an- und abschließend sowohl auf die unterrichteten Fremdsprachen des Gymnasiums als auch auf die lebensweltlich erworbenen Sprachen gerichtet, wobei der Fokus auf das Potenzial eben dieser vorgängig gelernten Sprachen und ihre Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht gerichtet wird.

      2.1 Europäische Sprachen- und Bildungspolitik und Mehrsprachigkeit

      Im Folgenden wird zunächst ein theoretischer Umriss des Begriffs Sprachenpolitik im Allgemeinen und der europäischen Sprachenpolitik im Besonderen entwickelt werden, um dann im weiteren Verlauf die knapp sechzigjährige Geschichte der gemeinsamen europäischen Sprachenpolitik, die zentralen Ziele und konkreten Auswirkungen für den Fremdsprachenunterricht darlegen zu können.

      Was versteht man unter Sprachenpolitik? In einem ersten Schritt grenzen einige allgemein gefasste Definitionen den Begriff etwas ein. Bußmann (1990) sieht als Sprachenpolitik

      „[…] [p]olitische Maßnahmen, die auf die Einführung, Durchsetzung und Bestimmung der Reichweite von Sprachen zielen. [Dazu zählt auch die] [p]olitische Sprachregelung. [Sie ist ein] Eingriff in den Sprachgebrauch, meist durch staatliche Stellen und mit dem Ziel, bestimmte Bewusstseinsinhalte zu wecken oder zu unterdrücken.“ (Bußmann 1990: 713)

      In diesem Sinne ist Sprachenpolitik die Ausübung staatlicher Einflussnahme auf den Sprachengebrauch und die Sprachenverwendung in einem Land oder einer Region. Sprachenpolitik kann zudem als politisch motivierter Eingriff in die sprachliche Situation einer Gesellschaft verwendet werden:

      „Sprachenpolitik sieht sich der Problematik gegenüber, mindestens zwei oder mehrere Sprachen in einem Staat in ein Gleichgewicht zu bringen.“ (Haarmann 1988: 1661)

      Die Möglichkeit des Missbrauchs der Sprachenpolitik für andere politische Ziele liegt auf der Hand: insbesondere sprachlichen Minderheiten gegenüber (vgl. dazu die „Charta der Regional- und Minderheitensprachen als Gegenentwurf des Europarates“, Europarat 1992). In einer Stellungnahme von 2005 hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) auf die vielfach missachteten Minderheitensprachen in Europa hingewiesen:

      „In Frankreich haben die Verfassungsgerichte die Ratifizierung der Charta der Regional- und Minderheitensprachen und damit auch die Anerkennung der Vielsprachigkeit des Landes abgelehnt. Eine Umfrage unter 380000 französischen Staatsbürgern ergab, dass statistisch betrachtet 26 Prozent oder 11,5 Millionen Staatsbürger Frankreichs eine andere Sprache als die französische sprechen. Etwa zur Hälfte ist dies eine Minderheitensprache und zur Hälfte die eines anderen Landes. Im Dezember 2002 hat der Staatsrat entschieden, dass Französisch die einzige Unterrichtssprache ist. Diese Entscheidung hat Viele enttäuscht, insbesondere in der Bretagne, wo zahlreiche Modellschulen zweisprachig in bretonisch und französisch unterrichten. Auch andere Gegenden sind betroffen, so erhalten 8679 Schüler eine zweisprachige Erziehung mit Elsässisch, 3509 in Okzitanisch und 766 in Kalatanisch. Diese Entscheidung bedroht diese Sprachen in ihrer Existenz, insbesondere wenn man das Profil der Angehörigen von Minderheitensprachgruppen bedenkt. Mehr als die Hälfte aller, die Bretonisch sprechen, sind älter als 65 und 75 Prozent älter als 50.“ (Gesellschaft für bedrohte Völker 2005: ohne Seitenangabe)

      Das Zusammenspiel von Sprachen in einem Land und seiner Gesellschaft (Sprachengemeinschaften) spielt eine wesentliche Rolle bei der Identitätsbildung. Die Sprachenpolitik ist, laut Louis-Jean Calvet (1996) im folgenden Zitat (Übersetzung durch die Verfasserin), die Sprachplanung, die sich in der Bestimmung der bedeutenden Entscheidungen bezüglich der Beziehungen zwischen Sprachen und Gesellschaft und ihrer konkreten Umsetzung manifestiert:

      « […] détermination des grands choix en matière de relations entre langues et société […] » [et sa] « mise en pratique. » (Calvet 1996: 3)

      Sprachenpolitik reguliert das Miteinander der Sprachen durch Sprachpflege ebenso wie Sprachförderung. Seit den Anfängen des zusammenwachsenden Europas nach dem zweiten Weltkrieg wird eine gemeinsame europaweite Sprachenpolitik politisch gewollt und vorangetrieben. Zwei große Institutionen spielen dabei eine wichtige Rolle, es sind die Europäische Union und vor allem der Europarat, die zwei unabhängige Organisationen der internationalen europäischen Politik sind. Während die Europäische Union erst 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft ihren Anfang nahm, besteht der Europarat, der durch den Vertrag von London gegründet wurde, bereits seit Mai 1949. Die Europäische Union lenkt heute die Geschicke von 28 Mitgliedstaaten (vgl. EU Länder 2017). Im Vergleich repräsentiert der Europarat 47 Staaten in Europa. Die Europäische Union ist seit ihrer Gründung traditionell stärker auf wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgelegt, sie trägt folglich der Mehrsprachigkeit eher formal Rechnung, wohingegen der Europarat schon immer ein Garant für eine starke Sprachen- und Kulturpolitik in Europa war und ist (vgl. hierzu Informationen vom Conseil de l'Europe und der Union Européenne 2007).

      Durch den Europarat gegründet befassen sich zahlreiche weitere Unterorganisationen noch detaillierter mit der Ausrichtung der europäischen Sprachenpolitik. Die „Unité des Politiques Linguistiques“ in Straßburg existiert seit 1957 und ist für die Konzeption und Koordination der Sprachpolitik des Europarates federführend.

      Bereits in der Gründungsphase des Europarates (1949) und der Europäischen Gemeinschaft wurden die Wichtigkeit der Sprachenfrage erkannt und grundsätzliche Regelungen vertraglich festgehalten. Seit 1957 war der Gedanke der europäischen Mehrsprachigkeit immer wieder ausdrücklicher Bestandteil von Gründungs- und Vertragstexten der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union. In diesem Sinne existiert seither auch eine Kommission zur Mehrsprachigkeit (vgl. u.a. Jostes 2006; Europäische Union 2007; Council of Europe 2007).

      Dennoch genießt die Sprachenpolitik größere Aufmerksamkeit seitens des Europarates. Im Rahmen des Schutzes der Menschenrechte in Europa spielt ebenfalls der Erhalt und Austausch der europäischen Sprachen und Minderheitensprachen für die älteste europäische Organisation eine wichtige Rolle (vgl. umfangreiche Darstellung der Sprachenpolitik des Europarats in: Jostes 2005 und 2006). In diesem Zusammenhang ist die „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ bedeutsam, wo es in der Präambel aus dem Jahr 1992 heißt, dass die unterzeichnenden Mitgliedsstaaten die jeweiligen Regional- oder Minderheitensprachen schützen werden und begründen dies:

      „[…] in der Erwägung, daß es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herbeizuführen, um insbesondere die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, zu wahren und zu fördern;

      in der Erwägung, daß der Schutz der geschichtlich gewachsenen Regional- oder Minderheitensprachen Europas, von denen einige allmählich zu verschwinden drohen, zur Erhaltung und Entwicklung der Traditionen und des kulturellen Reichtums Europas beiträgt.“ (Conseil de l’Europe 1992; Hervorhebungen im Text)

      Bei der Vielzahl der Entwicklungen in der Geschichte der europäischen Sprachenpolitik sind einige Ereignisse besonders hervorzuheben, die weitreichende Folgen bis in den Fremdsprachenunterricht in der Schule haben. Ein erster Meilenstein ist das „Europäische Kulturabkommen“ des Europarates von 1954, das insbesondere das Studium von Sprachen, Geschichte und Landeskunde der Staaten Europas anregen möchte, wie es folgender Auszug aus der europäischen kulturellen Konvention hervorhebt (vgl. u.a. Europarat 1954: 1; Council of Europe 2007):

      Each Contracting Party shall, insofar as may be