Heiner Böttger

Sprachen lernen in der Pubertät


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im Großen und Ganzen abgeschlossen ist (vgl. Böttger 2016: 76).

      Es entstehen somit sowohl ganz erhebliche Chancen für jede Art von Bildung, insbesondere sprachliche Bildung und Erziehung (vgl. Konrad et al. 2013: 425), jedoch auch hohe Anforderungen an das weitverbreitete geringe Verständnis der Verantwortlichen für diesen Aspekt von PubertätPubertät. Einfache Erklärungen bilden nicht annähernd die Komplexität dieses zerebralen Umbruchs ab.

      Alles im pubertierenden Gehirn entwickelt sich hormonell bedingt unterschiedlich stark und schnell, passt nicht mehr in das weitgehend vorhersehbare, berechenbare, ausgeglichene und harmonische Gleichgewicht der Kindergedankenwelt. GeschlechtshormoneGeschlechtshormone sind ab etwa dem zehnten bis zwölften Lebensjahr die Verursacher des scheinbaren GefühlsGefühle- und Gedankenchaos. Sie leiten die körperliche ReifungReifung bis hin zur Geschlechtsreife ein. Wie genau der Umbau- und Reorganisationsprozess abläuft, ist nicht abschließend geklärt. Für das Sprachenlernen relevante, bereits gesicherte Erkenntnisse und Aspekte werden im Folgenden geklärt. Diese umfassen auch den sprachlichen Beziehungsaufbau, die IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung im kommunikativen Kontext, das Sprachselbstbewusstsein, die Kontrolle sprachlicher Produktion sowie kommunikativ-soziale Kompetenzen.

      1.1 Alles auf Start

      Zu einem nicht exakt vorhersehbaren Zeitpunkt beginnt die Wandlung vom Kind zum Jugendlichen. Das Hirn weist generell eine hohe Dichte an Rezeptoren für SexualhormoneSexualhormone auf, die so auch während der AdoleszenzAdoleszenz dort neuronale ArealeAreale beeinflussen, zumal sie in dieser Zeit ansteigend aktiviert werden.

      Verantwortlich ist dafür in erster Linie der Hypothalamus, der das Ausschütten der HormoneHormon initiiert (vgl. Sambanis 2013: 69). Er ist der kleinere Teil des ZwischenhirnsZwischenhirn und steuert die biologischen Grundfunktionen des Körpers (vgl. Böttger 2016: 94): Atmung, Nahrungsaufnahme, Blutkreislauf. Zu Beginn der PubertätPubertät sendet der Hypothalamus chemische Signale an die Drüse Hypophyse, damit diese Botenstoffe ausschüttet, die wiederum u.a. die Produktion der SexualhormoneSexualhormone Östrogen und TestosteronTestosteron bei Mädchen bzw. Jungen beeinflussen. Der genaue Zeitpunkt ist individuell unterschiedlich und abhängig von weiteren Faktoren, beispielsweise den vorhandenen Fettreserven bei Mädchen.

      Der Hypothalamus (1) befindet sich im Bereich der Sehnervenkreuzung. Er ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Nervensystem und Hormonsystem, erreicht die Größe eines Fünf-Cent-Stücks und wiegt ca. 15 Gramm. Durch den Hypophysenstiel (2) (Infundibulum) besteht eine Verbindung mit der Hypophyse (3) (HirnanhangdrüseHirnanhangdrüse), die wie ein Tropfen hängt. Die Hormonausschütung verläuft ab dort als Kettenreaktion wie folgt: Spezielle HormoneHormon aktivieren in den Eierstöcken bzw. Hoden die Produktion von Östrogen und TestosteronTestosteron, zwei SexualhormonenSexualhormone (4). Diese wirken erneut auf den Hypothalamus und beeinflussen den Sexualtrieb.

      

Abb. 1

      Hormonausschüttung

      1.2 Qualitative Änderungen in den Hirnregionen

      In der AdoleszenzAdoleszenz entsteht durch die Reorganisationsprozesse bis etwa zum 30. Lebensjahr ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen. Dies betrifft insbesondere das früher reifende limbische System, das auch das BelohnungssystemBelohnung, Belohnungssystem beinhaltet, und das im StirnlappenStirnlappen sitzende Kontrollsystem (siehe Abb. 2). Dies ist mit tiefgreifenden emotionalen und kognitiven Veränderungen verbunden. Letztere umfassen auch die exekutiven Funktionen (vgl. 3.3.3), die Denken und Handeln kontrollieren, und so erst auch z.B. eine flexible Anpassung an neue sprachliche Herausforderungen in neuen sprachlichen Kontexten ermöglichen (vgl. Casey et al. 2010).

      

Abb. 2

      Nichtlineare Reifungsprozesse von subkortikalen und präfrontalen Hirnarealen

      Die, an der gesamten körperlichen EntwicklungEntwicklung gemessenen, immer noch unreifen synaptischen Netzwerke im jungen Gehirn verantworten so die verminderte kognitive und emotionale SelbstregulationSelbstregulation und damit auch einen zeitweisen Kontrollverlust, auch in sprachlicher Hinsicht.

      Das Spannungsfeld KognitionKognition – EmotionEmotionen ist für die PubertätPubertät konstituierend: Das Denken Pubertierender ist durch die sich erst entwickelnde neuronale Verbindung und Integration von limbischem System und präfrontalem Kortex geprägt. Ist wenig Erregung vorhanden, werden die Denkprozesse über den StirnlappenStirnlappen gesteuert (= kalte Kognition), bei starken EmotionenEmotionen werden Entscheidungen über das limbische System gesteuert (= heiße Kognition).

      Besonderes Augenmerk verdient, auch in spracherzieherischer Hinsicht, die emotionale EntwicklungEntwicklung (vgl. 3.3). Natürliche Stressoren führen zu positiven Auswirkungen auf Anforderungen und Lernprozesse, jenseits einer gesunden Grenze verändern sie jedoch neuronale Strukturen, beispielsweise durch intensive AngstAngst/ anxiety, Angsterkrankungen, exzessiven Stress, soziale Be- bzw. Verurteilung. Ab dem frühen Sprachenlernen bis zum Ende der PubertätPubertät führen positives FeedbackFeedback und Erfolge zur gesunden SelbsteinschätzungSelbsteinschätzung und Selbstregulierung.

      Die ReifungReifung des Gehirns von der Kindheit bis in die AdoleszenzAdoleszenz ist ein höchst dynamischer Gesamtprozess (vgl. Abb. 3) als Resultat vieler unterschiedlicher Einzelprozesse. Um zu verstehen, was diesbezüglich in der PubertätPubertät vor sich geht, ist zunächst ein Blick zurück in die EntwicklungEntwicklung des kindlichen Denkorgans bis zum Eintritt in die Pubertät notwendig.

      

Abb. 3

      Entwicklungsphasen

      1.2.1 Pruning – gezielte Optimierung

      Schon bald nach der Geburt ist die Höchstzahl der Nervenzellen im Gehirn erreicht (ca. 60 Milliarden). Es fehlen nun noch größtenteils die verbindenden Synapsen. Die Zahl der in den ersten Lebensjahren entstehenden Synapsen erreicht mehrere Billionen und bildet mit den Zellen ein dichtes Netzwerk (vgl. Böttger 2016: 63). Es repräsentiert anatomisch die ungeheure Lernfähigkeit dieser frühen Altersspanne, die die Aufnahme von unzähligen Eindrücken und Impulsen ermöglicht. Dies geht zu Lasten von Konzentrationsfähigkeit und präziser Handlungseffizienz, die erst mit der EntwicklungEntwicklung in der PubertätPubertät erreicht werden können. Im Alter von etwa zehn Jahren wird die steile Synapsenentwicklung eingebremst. Die Atrophie ungenutzter ZellverbindungenZellverbindungen, die gegenüber der bisherigen Entwicklung nicht auffallend war und jetzt ein Gleichgewicht erreicht hat, nimmt schlagartig zu: Die Dysbalance kehrt sich um, die Entwicklung schaltet nun von Quantität auf Qualität und zwar nutzungsabhängig.

      Use it or lose it heißt das neue Prinzip der HirnentwicklungHirnentwicklung, also Benützen oder Verlieren von neuronalen Verbindungen – Letzteres wird auch Pruning (engl., von Zurückschneiden, Stutzen) genannt. 30000 Nervenverbindungen werden pro Sekunde während der PubertätPubertät rückgebaut, umgerechnet also über 2,5 Milliarden täglich.

      Dies geht einher mit einer Zunahme des Zellkörpervolumens. Bis zum Ende der AdoleszenzAdoleszenz sind es 50 Prozent aller seit Erreichen des Maximums bestehenden Synapsen. Das bedeutet einen massiven Substanzverlust (vgl. Abb. 4), jedoch zu Gunsten qualitativer Verbindungen, die nutzungsabhängig bestehen bleiben.

      Wenngleich die Synapsendichte im Frontalhirn, dem Entscheidungszentrum hinter der Stirn (vgl. 1.2.2), nach der PubertätPubertät abgenommen hat, ist das Volumen des Gehirngewebes jedoch gleich geblieben (Blakemore 2006: 163).

      

Abb. 4

      Volumenänderung im Gehirn

      Der Optimierungsprozess war lange unbekannt, wurde noch länger unterschätzt und sogenannte „pubertäre“, nicht immer rational erklärbare Verhaltensweisen Jugendlicher wurden ihm