Argument aufgebaut?
2.5 Die rhetorische Perspektive
Rhetorik kann verstanden werden als die Praxis und Theorie der Überzeugung anderer. Dies ist insbesondere in Situationen notwendig, in denen keine sichere Entscheidungsgrundlage zur Verfügung steht und Entscheidungsdruck herrscht. Nach Aristoteles (2002) beschreibt Rhetorik „die Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten“ (1355b26–27).
Die rhetorische Perspektive untersucht Argumentation aus einem Prozessblick. Argumentation wird danach verstanden als ein kommunikatives Verfahren in Rede- oder Gesprächssituationen, das durch Begründungshandeln entweder Überzeugung beim Gegenüber oder aber auch die Verschärfung von Streitpunkten erreichen will. Argumentation dient aus diesem Blickwinkel der PersuasionPersuasion eines Publikums oder von Interaktionsteilnehmerinnen.
PersuasionPersuasion bezeichnet „bewusste Versuche, Verhalten mit Hilfe von Zeichen zu beeinflussen“ (Schönbach, 2016, S. 17). Anzufügen wäre hier, dass es nicht nur um die Beeinflussung von Verhalten, sondern auch von Einstellungen gehen kann.
Der Begriff der PersuasionPersuasion umfasst zwei Bedeutungen und Konzepte: das Konzept des ÜberredenÜberredens und das des ÜberzeugenÜberzeugens. Die Unterteilung in ÜberredenÜberreden und ÜberzeugenÜberzeugen bringt immer eine Wertung mit. Unter ÜberzeugenÜberzeugen kann man die Form der PersuasionPersuasion verstehen, die auch vom Rezipienten reflektiert wird. ÜberredenÜberreden wird hingegen in der Regel als ein Persuasionsprozess verstanden, in dem „das Bezugssystem des Hörers kurzgeschlossen wird“ (Geißner, 1988, S. 154). Das heißt, die Hörerin ändert zwar kurzfristig ihre Einstellung und/oder ihr Verhalten, sollte es jedoch zu einer genaueren Prüfung kommen, revidiert sie die Änderung in Einstellung und/oder Verhalten möglicherweise schnell wieder (wenn sie sie nicht ändert, ist sie nun überzeugt). Diese Unterscheidung von ÜberredenÜberreden und ÜberzeugenÜberzeugen wird in der Diskussion der einzelnen rhetorischen Ansätze noch relevant werden.
Ein gutes Argument ist aus rhetorischer Sicht ein effektives Argument, eines mit dem die Sprecherin ihre Ziele erreicht. Das Interesse der rhetorischen Perspektive wäre nun zu analysieren, welche argumentativen Verfahren Teilnehmerinnen nutzen, um möglichst erfolgreich zu agieren.
JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.
JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.
Aus Sicht der rhetorischen Perspektive ist hier interessant, dass Juror 3 sich nur auf einen Teil der Argumentation von Juror 8 bezieht und ihn versucht zu entkräften, nicht aber auf die anderen Teile, die ebenso die Konklusion von Juror 8 stützen: „das ist kein gutes Sprungbrett für’s Leben“. Allerdings macht Juror 3 auch nicht explizit, ob er meint, dass durch dieses Gegenargument das gesamte Argument von Juror 8 oder nur ein Teil als widerlegt zu gelten hat.
Die Frage, was aus einem Grund einen guten Grund macht, ist für die rhetorische Perspektive nicht einfach zu beantworten. Es ist eine Frage, die Rhetorikerinnen in der Argumentationswissenschaft immer wieder umtreibt. Einerseits könnte man sagen, dass die rhetorische Perspektive ein klares Kriterium vorgibt: die Akzeptanz durch das Gegenüber. Wenn das Gegenüber das Argument akzeptiert und daraufhin seine eigene Position korrigiert, war die Argumentation effektiv. Ein Argument, das vom Gegenüber nicht akzeptiert oder zumindest als relevant eingeordnet wird, kann keine Wirkung entfalten, wäre also ineffektiv. Dies würde aber andererseits auch bedeuten, dass Argumente, die auf Lügen, persönlichen Angriffen oder Drohungen beruhen, als „geltend“ eingeordnet würden, nur weil sie akzeptiert werden. Wirksamkeit und Geltung würden so gleichgesetzt, eine Gleichsetzung, die zumindest dann problematisch ist, wenn Argumentation als besonderes kommunikatives Mittel zur Entscheidungsfindung gilt. Fast alle Theoretikerinnen rhetorischer Ansätze haben sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und Lösungen entwickelt: Toulmin (1958) mit dem FeldkonzeptFeldToulmin, Perelman und Olbrechts-Tyteca (2004a, 2004b) mit dem Konzept des Universellen Publikums und Habermas (1981) mit dem Konzept der Idealen Sprechsituation. Zugleich ist der Ansatz, Argumentation aus einer Prozesssicht so zu beschreiben, wie sie auftritt, ohne sie sofort in ein normatives Modell einzuordnen, wichtig. Nur so können Theorien zur Argumentation für die Analyse von authentischem, argumentativem Diskurses relevant gemacht werden.
Perspektive/Modell/ Ansatz | Formaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut? | Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation? | Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung/Gültigkeit eines Arguments? |
Logische Perspektive | Aus wahren PrämissePrämissen | Von wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen | ValiditätValidität bezogen auf inferentielle Regeln |
Dialektische Perspektive | Aus wahrscheinlichen Aussagen | Die rationale Lösung einer Kontroverse zu erreichen | Das Befolgen von Verfahrensregeln |
Rhetorische Perspektive | Aus wahrscheinlichen Aussagen | Die Überzeugung/Überredung des Gegenüber | Durch Akzeptanz? Ja, aber nicht nur … |
2.6 Probleme der Unterteilung in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive
Die Schwierigkeit, den Status von argumentativer Geltung aus der rhetorischen Perspektive genau zu benennen, weist auf ein Problem des heuristischen Modells der drei Perspektiven auf Argumentation hin. Auch wenn es möglich ist, die drei Ebenen analytisch zu trennen, so werden die Grenzen in der Praxis doch immer wieder verwischen. In der Analyse von authentischer Argumentation ist oft insbesondere zwischen rhetorischer und dialektischer Perspektive nicht klar zu unterscheiden.
Die Differenzierung des Argumentationsbegriffs in drei Perspektiven ist nicht unumstritten. Sie ist kritisiert worden, da sie suggerieren könnte, es gäbe nur drei Perspektiven, aus denen Argumentation untersucht werden kann und diese drei seien in sich geschlossen (Gilbert, 2014; Johnson, 2009). So gibt es sicher nicht nur eine rhetorische, eine dialektische oder eine logische Perspektive, sondern innerhalb dieser Trias wiederum verschiedene, auch widerstreitende Ansätze. Zudem sind die verschiedenen Ansätze in sich nicht klar abgeschlossen, wie später in den Kapiteln zu dialektischen und rhetorischen Ansätzen zu sehen sein wird.
Blair (2012) hat die Einteilung grundsätzlich kritisiert, da er zum einen davon ausgeht, dass die Perspektiven sich nicht genau trennen lassen, zum anderen feststellt, dass einige Autorinnen beispielsweise unter „rhetorischer Argumentation“ eher einen bestimmten thematischen Bereich und keine analytische Perspektive verstehen: Diskurse, in denen die WahrscheinlichkeitWahrscheinlichkeit von Aussagen dominiert und dennoch Entscheidungen getroffen werden müssen, wie im politischen Diskurs. Blair selbst vertritt die Sichtweise, dass die rhetorische Perspektive auf die Rede und die dialektische Perspektive auf das Gespräch bezogen sein sollte und die Logik in beiden Bereichen die Normen bereitstellt, nach denen die Geltung der Argumente analysiert werden kann (vgl. Blair, 2012, S. 13). Jørgensen (2014), Vertreterin einer eher rhetorischen Sichtweise, antwortete darauf mit der Feststellung, dass insbesondere die Charakterisierung der rhetorischen Situation durch die Rede sowie die eher antiquiert wirkende Beschreibung von Redesituationen als monologisch und nicht-interaktional einem modernen Rhetorikverständnis und Verständnis von öffentlicher Rede nicht gerecht werden. Zugleich lehnt aber auch Jørgensen den Begriff der Perspektive ab, zumindest soweit er einen essentiellen Unterschied zwischen