Kathrin Hubli

Kunstprojekt (Mumin-)Buch


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Arbeit daher fruchtbar gemacht werden, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten wird eine Perspektive eingenommen, die durch den material turn in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die Literaturwissenschaft miteingeschlossen, herbeigeführt worden ist und den Blick für Aspekte der Materialität in jüngster Zeit wieder geschärft hat.

      1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik

      Aussagen von Tove Jansson selbst betreffend ihrer Einordnung in Kunst- und Literaturgeschichte finden sich lediglich wenige. Im Buch Meddelande (Mitteilung) spricht sie sich in einem Briefauszug klar gegen eine soziale Tendenzkunst aus, bekennt sich deutlich zum Credo l’art pour l’art.1 „Hon värdesatte självständighet, var mycket jagcentrerad i sin konstsyn och ställde sig kritisk också till betydande nya ideologier“ „Sie schätzte Selbstständigkeit, war sehr ich-zentriert in ihrer Kunstauffassung und stellte sich auch gegen bedeutende neue Ideologien kritisch“, schreibt Tuula Karjalainen.2

      In Literaturgeschichten wird Tove Jansson zusammen mit Astrid Lindgren und Lennart Hellsing als eine der wichtigsten Reformer, als Repräsentantin der modernen skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur, des Modernismus, genannt. Alle drei debütierten im Jahr 1945, das als Wendepunkt in der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur gilt. Das Kriegsende führte zu mehr Wohlstand und einem Anstieg der Geburtenrate. Gleichzeitig begann der Glaube an Autoritäten zu wackeln und liberale Ideen erstarkten. Vor allem auch, was die Vorstellungen vom Kind und von Kindheit, Erziehung und Bildung betraf. Vielerorts wurden Bibliotheken ausgebaut. Das Kinderbuch erhielt so eine gänzlich neue Relevanz. Der Markt vergrösserte sich enorm. In der Folge fokussierten sich Verlage vermehrt explizit auf die Sparte Kinder- und Jugendliteratur. Konkret spricht man von ca. 500 Titeln pro Jahr, die nach Kriegsende publiziert wurden. Damit einher ging eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur, die ebenfalls rapide zunahm und sich professionalisierte.3

      Das Attribut „modern“ beinhaltet nach Lena Kåreland Innovationen, was die Sprache, den Stil und die Themenwahl betrifft.4 Bis heute ist Lindgrens Pippi Långstrump Symbolfigur dafür. Sie ist die personifizierte kindliche Sehnsucht nach Freiheit und Rebellion und damit ein direkter Angriff auf bestehende Normen.5 In Skandinavien wird als Modernismus bezeichnet, was ansonsten unter dem Begriff Avant-garde zusammengefasst wird.6 Der Begriff Avant-garde beziehungsweise avantgardistisch bezeichnet Autoren, Künstler, Intellektuelle, welche die Grenzen des als „normal“ bezeichneten sprengen.7 „Att vara modern innebär ett skärpt tidsmedvetande, ett strävan att befinna sig mitt i nuet, att utnyttja och konstnärligt uttrycka de mest avancerade erfarenheterna, även med risk att spränga den estetiska formen.“ „Modern zu sein beinhaltet ein scharfes Zeitbewusstsein, ein Streben danach, sich mitten im Jetzt zu befinden, die fortschrittlichsten Erfahrungen auszunützen und künstlerisch auszudrücken. Auch mit dem Risiko, die ästhetische Form zu sprengen.“, definiert Kåreland.8 Modernismus als Begriff birgt dabei ein Bestimmungsproblem, wie immer wieder von verschiedenster Seite betont wird. „Eine Definition dieses vagen Begriffs ist schwierig, weil er nur eine Sammelbezeichnung für alle modernen, amimetischen literarischen Strömungen seit Baudelaires Lyrik ist.“, so etwa Thomas Seiler.9 Kåreland verfasste mit ihrer Arbeit Modernismen i barnkammaren. Barnlitteraturens 40-tal (Der Modernismus im Kinderzimmer. Die 40-er Jahre der Kinderliteratur) eine Monografie, welche sich explizit mit der Kinderliteratur in dieser Zeit auseinandersetzt. Auch sie beschreibt Modernismus als einen äusserst heterogenen Begriff, der einerseits als konkrete Zeitperiode (Kåreland definiert die Zeitperiode mit 1890–1950 äusserst weit), andererseits mehr als eine Bewegung, eine Lebenseinstellung verstanden werden könne.10Anders formuliert: Modernismus ist einerseits ein Produkt der industriellen Revolution, von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, andererseits ein ästhetischer Begriff.11

      Als ästhetischer Begriff spiegelt sich Modernismus deutlich in den Künsten: Musik, Malerei und Literatur. Die Avant-garde beziehungsweise im hiesigen Kontext eben der skandinavische Modernismus zeichnet sich als eine Zeit aus, in der Kunst als Erkenntnisinstrument verstanden wurde. Man begriff die künstlerische Arbeit als „eine Tätigkeit, die durch ihre handwerkliche Komponente eine Brücke zwischen Intellekt und Materie bildet“.12 Die Künstler der Avant-garde wenden sich bewusst den materiellen Aspekten von Kunst zu.13

      Diese Ideologien ebneten den Weg für das Buch als Artefakt. Einen konkreten Ausdruck fand dies etwa in den Künstlerbüchern, den artist's books. Johanna Drucker bezeichnet dies als „[…] the quintessential 20th-century artform. Artist’s books appear in every major movement in art an literature […].“14 Elina Druker zeigt in ihrer Arbeit Modernismens bilder (2008), wie im Skandinavien der 1940er- und 1950er-Jahre eine neue Bilderbuchästhetik heranwächst.15 Einer ihrer zentralen Ausgangspunkte dabei ist die Vorstellung vom Buch als ästhetisches und physisches Objekt.16 Konkret bedeutet dies, das Buch wird nun in seiner physischen Form künstlerisch erforscht. Dabei werden auch Wörter, Buchstaben und Farben als konkrete Objekte behandelt. Ausserdem erwähnt sie, wie die Suche nach einer Bildsprache dazu führte, dass die Formsprache des Bilderbuchs breiter wurde. Die Idee des Bilderbuchs als Kunstform etablierte sich: „Bilderboken upplevdes som ett alternativt medium, en möjlig plats för formexperiment utan de krav som vuxenlitteraturens eller bildkonstens fält kunde innebära.“ „Das Bilderbuch wurde aufgefasst als ein alternatives Medium, ein möglicher Platz für Formexperimente, ohne die Ansprüche, die die Literatur für Erwachsene oder die Bildkunst beinhalten.“ Dass zahlreiche Bilderbuchkünstler dieser Zeit ebenfalls in Nachbardisziplinen wie etwa der Bildkunst etabliert waren, stützt laut Druker diesen Schlusssatz.17 Auch Jansson betätigte sich bekanntermassen nicht nur als Schriftstellerin, sondern ebenfalls als Malerin, Karikaturistin und Illustratorin. Ihr bildnerisches Schaffen ist ebenso facettenreich wie das literarische. Selbst sah sie sich gar in erster Linie als Malerin.

      1.2. Materie – Material – Materialität

      Seit den 1960er-Jahren proklamieren die unterschiedlichen turns (linguistic turn, pictorial turn, medial turn, um bloss einige wenige zu nennen) immer wieder neue Paradigmenwechsel quer durch die verschiedensten Disziplinen.1 Obwohl Karl Pfeiffer noch in den 1980er-Jahren äussert: „Gleichwohl scheint der Begriff Materialität aus herrschenden Wissenschaftsparadigmen ausgesperrt.“2, wurde in diesem Geist in jüngerer Zeit ebenfalls der material turn ausgerufen. Michel Foucault und Jacques Derrida und deren Kritik an der Metaphysik wird dabei ein bedeutender Anteil an der Konjunktur des Begriffs „Materialität“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften zugesprochen.3 Martin Schubert definiert in Materialität in der Editionswissenschaft (2010) gleich im ersten Satz, was der material turn beinhaltet:

      Das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an Materialität ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, und zwar so sehr, dass bereits von einem material turn gesprochen wurde. Aus dem ursprünglichen Bestreben, die in Anthropologie, Geschichtswissenschaften und Kunstgeschichte lange geringgeachtete Materialität der Dinge neu in den Fokus zu rücken, haben sich vielfältige Zugänge entwickelt.4

      Der material turn ist also ein umfassender Perspektivenwechsel, durch den der bislang vernachlässigte Aspekt der Materialität neue Beachtung findet. „Turns lenken die Aufmerksamkeit[…] auf interne Bedingungen des ,intellektuellen Feldes.‘“5, postuliert Doris Bachmann-Medick. Christiane Heibach und Carsten Rohde sehen turns gar als die Konsequenz eines Bewusstseins für blinde Flecken der eigenen Wissenschaft und als Ausdruck durchlässiger Grenzen zwischen den Wissenschaften.6 Sie formulieren:

      […] die Wissenschaften nähern sich in ihren jeweiligen materiellen und immateriellen Präferenzen sukzessive einander an und verlassen ihre jeweils angestammten Positionen: Für die Geisteswissenschaften bedeutet das die Hinterfragung der Prämierung des immateriell-hermeneutischen Denkens, für die Naturwissenschaften eine Infragestellung der Konkretheit ihrer Erkenntnisse über materielle Objekte durch die Reflexion auf die immateriellen Bedingungen ihrer Theoriebildung.7

      Wie bereits erwähnt, geht es bei turns also um