Eva Gredel
Digitale Diskurse und Wikipedia
Wie das Social Web Interaktion im digitalen Zeitalter verwandelt
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-89308-001-4
Für Michael und Johanna.
Vorwort
Das Verständnis des Internets, der dort angebotenen Plattformen und der dort vorzufindenden sprachlichen Handlungen hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend gewandelt: Die Auffassung des Netzes als virtuelle Welt wurde in den 2000er Jahren durch das Bild des Resonanzraums sozialer Realitäten abgelöst. Zuletzt hat sich die Haltung verbreitet, dass im Social Web durch Interaktion verschiedenster Akteure soziale Wirklichkeiten konstruiert und verändert werden. Internet-Phänomene wie Shitstorms und Trolling, Cybermobbing oder Memes, z.B. #lovewins und die Spendenkampagnen IcebucketChallenge, sind Ausgangspunkte für digitale Diskurse, die hohe Reichweiten erlangen und auch in nicht-digitalen Medien verhandelt werden. Diese Entwicklungen haben digitale Interaktion in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. In einer Zeit, in der weltweit Fundamentalismen und radikaler Populismus sowie alternative Fakten im Netz enorme Verbreitung finden und diskursive Dynamiken auf Twitter wahlentscheidende Effekte haben, ist eine große Verunsicherung gegenüber digitalen Plattformen spürbar.
Auch gegenüber der Wikipedia werden Vorbehalte laut. Oftmals werden Diskussionen zur Wikipedia jedoch relativ uninformiert geführt und bleiben auf Themen wie deren Zitierfähigkeit oder einzelne inhaltliche Mängel beschränkt. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich eine neue Sicht auf die Online-Enzyklopädie vorstellen und diese im Sinne der Diskurslinguistik als diskursiven Raum präsentieren. Diskurse werden in diesem Buch als Text- und Aussagenformationen zu einem bestimmten Thema verstanden (z.B. der Diskurs zum Brexit). Im Gespräch mit StudentInnen, LehrerInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen habe ich erfahren, dass mit erweitertem Grundlagenwissen zur Struktur und Verfasstheit der Wikipedia diese ganz neu wahrgenommen und genutzt wird. Dieses Grundlagenwissen habe ich im Folgenden zusammengefasst und möchte den LeserInnen eine neue – überwiegend sprachwissenschaftliche und diskursanalytische – Sicht auf die Online-Enzyklopädie eröffnen.
Dass mein Beitrag in der Reihe mit dem Titel „DIALOGE“ erscheint, hat für mich zwei Bedeutungen: Zum einen erhoffe ich mir, dass er den Ausgangspunkt für den Dialog verschiedenster Personengruppen darstellt, die sich mit digitalen Plattformen und vor allem mit der Wikipedia beschäftigen. Mein Ziel ist es, detaillierte Informationen zum großartigen Projekt der Online-Enzyklopädie zu vermitteln, um all jene zu begleiten, die die Möglichkeiten und das Potential der Wikipedia voll ausschöpfen möchten. Der Fokus liegt dabei auf einer (diskurs-)linguistischen Herangehensweise, bei der – den medialen Unkenrufen zum Trotz – auf der Grundlage sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse Sprachwandel und sprachliche Variation durch Digitalisierung nicht als „Sprachverfall“, sondern als „Normalfall“ verstanden werden.
Zum anderen kann dieser Beitrag zur Reihe „DIALOGE“ aber auch selbst als Ergebnis eines solchen Dialogs verschiedenster Personengruppen verstanden werden. Während meiner Arbeit an diesem Buch habe ich vom Austausch mit vielen verschiedenen Personen profitiert: An erster Stelle danke ich Prof. Dr. Angelika Storrer und Dr. Ziko van Dijk sowie den Mitgliedern des DFG-geförderten Netzwerks „Diskurse – digital: Theorien, Methoden, Fallstudien“ für die ausführlichen Diskussionen zu digitalen Diskursen und Wikipedia. Neben den vielen einschlägigen Fachtagungen waren auch die Wikipedia-Tagungen WikiCon und WikiDACH eine große Bereicherung für meine Arbeit: Rudolf Simon hat mir mit seiner Einladung zur WikiCon 2017 erstmals ermöglicht, an einer der Wikipedia-Tagungen als Referentin teilzunehmen. Ein weiterer Höhepunkt meiner Beschäftigung mit der Wikipedia war die Organisation der WikiDACH 2017, bei der ich zusammen mit Sebastian Wallroth rund 50 Wikipedia-Autoren und Wikipedia-Begeisterte an der Universität Mannheim begrüßen konnte. Als sehr wertvoll habe ich auch den Austausch mit den Lehrerinnen und Lehrern im Workshop „Wikipedia: Wissensformat zwischen freiem Wissen und Fake News im digitalen Zeitalter“, den ich an der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen in Esslingen leitete, empfunden. Zu Dank bin ich außerdem den Studierenden meiner Hauptseminare im Frühjahrssemester (Wikipedia aus text- und diskurslinguistischer Perspektive) und Herbstwintersemester 2017 (Linguistische Wikipedistik) an der Universität Mannheim verpflichtet, die sich engagiert und wissensdurstig in die Seminare eingebracht haben.
1. Einführung: Relevanz und Reichweite der Wikipedia
Die meisten Internetnutzer sehen in der digitalen Plattform Wikipedia bei ihrer täglichen Nutzung ein Nachschlagewerk, das ihnen bei Alltagsfragen zur ersten Orientierung dient. Zwischenzeitlich geht die Relevanz der Wikipedia jedoch weit über die Funktion einer Online-Enzyklopädie hinaus. Je nach Blickwinkel kann die Wikipedia auch als Nachrichtenquelle, als Kanal für Public Relations oder als Lehr- und Lerngegenstand gesehen werden. Diese möglichen Sichten auf Wikipedia sollen im Folgenden eingehend beschrieben werden. Besonders wichtig und den anderen Perspektiven übergeordnet ist in diesem Buch das Verständnis der Wikipedia als diskursiver Raum: Wikipedia stellt mit ihrer großen Reichweite eine neue digitale Teilöffentlichkeit dar, in der sich grundsätzlich alle Interessierten mit Internetzugang zu einer großen thematischen Bandbreite äußern können. Neben Einträgen zu Allgemeinwissen (z.B. zur Tierart der Schneehasen) werden dort auch viele aktuelle Themen etwa aus dem Bereich der Politik thematisiert, die häufig Gegenstand ausführlicher Kontroversen sind (z.B. die sogenannte Krimkrise). Dies wird besonders deutlich, wenn man hinter die Kulissen der Wikipedia schaut, also die weniger bekannten Bereiche wie Diskussionsseiten oder Versionsgeschichten der Online-Enzyklopädie betrachtet. Wikipedia-Autoren ringen dort um die aus ihrer Sicht richtige bzw. neutrale Benennung aktueller Geschehnisse. Es kommen dann Fragen dieser Art auf: Soll der Wikipedia-Eintrag zu den Ereignissen auf der Krim im Frühjahr 2014 als Krimkrise oder als Annexion der Krim bezeichnet werden? Während eine Krise ‚eine schwierige Lage bzw. Situation’1 ist, bedeutet Annexion so viel wie ‚gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Gebiets’2. Anhand solcher Diskussionen in Wikipedia wird sichtbar, dass das Ringen um Worte dann auch ein Ringen um Weltdeutungen ist. Mit dem Durchsetzen spezifischer sprachlicher Muster geht in der Folge auch die Dominanz gewisser Weltdeutungen einher. Die Untersuchung des Aufkommens und der Verbreitung solcher Sprachmuster in einzelnen Wikipedia-Einträgen, in der gesamten Online-Enzyklopädie sowie in der medialen Öffentlichkeit insgesamt ist zentrales Anliegen der Diskurslinguistik. Vor dem Hintergrund der Aushandlung von Wissensbeständen im digitalen Diskurs der Wikipedia lässt sich auch begründen, warum der Begriff Interaktion im Titel dieses Beitrags so prominent gesetzt ist, obwohl er sonst wenig in Verbindung mit diskursanalytischen Arbeiten gebraucht wird. Für die digitalen Diskurse in Wikipedia ist charakteristisch, dass die enzyklopädischen Inhalte der Artikelseiten durch die aufeinander bezogenen Sprachhandlungen auf den Diskussionsseiten von Wikipedia-Autor zu Wikipedia-Autor zustande kommen.
Die reflektierte Betrachtung digitaler Diskurse ist nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch ganz allgemein für Internetnutzer von zentraler Bedeutung. Sie ziehen nur dann den größten Nutzen aus der Online-Enzyklopädie, wenn sie auf diese kompetent zugreifen und deren diskursive Dimension erkennen. Obwohl vier von fünf Internetnutzern regelmäßig auf die Wikipedia zugreifen, kennen viele mit den Artikelseiten nur den enzyklopädischen Kern der Wikipedia. Hier wird deshalb die Struktur der Wikipedia erläutert, um die zentrale Funktion der weniger bekannten Bereiche wie Diskussionsseiten und