Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter


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in den Tod“ in eine „Erleuchtung des Todes bis zu jenem mystischen Punkt, wo der Tod zur Lebensverwandlung und zum Schoße der Schöpfung wird“.29

      Die drei kulturellen Etappen der modernen Erzählkunst, die zu dieser „neuen Transzendenz“30 hinführen, lassen sich exemplarisch anhand der hier behandelten Romane erarbeiten. Die emotionale Eindringlichkeit, in der die Erzählfiguren mit Dilemmata, Konflikten und erzwungenen Konfliktlösungen umgehen, wirken vor ihrem kulturellen Hintergrund und dem der Rezipient/innen des dritten Lebensalters herausfordernd und diskursanregend.

      Im ersten Teil der Arbeit geht es um einen kultursemiotischen Ansatz, der es ermöglicht, Erfahrungen der Gerotranszendenz31, mit ihren Fähigkeiten zu Selbstdistanz, Gelassenheit, einem selbst organisierten, kreativen Leben, mit ihrer Fähigkeit zu Spiritualität und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektiven,32 sowie mit ihrer Empfindung für Ganzheit im Sinne eines Werdens zu sich selbst,33 in dialogische Beziehung zu setzen mit ästhetischen Erfahrungen, die Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts in Großbritannien evozieren. In diesem theoretischen Teil wird verdeutlicht, dass die Ambivalenz der Moderne sich narrativ in der Uneindeutigkeit einer Metaphysik des Schwebens in den Romanen niederschlägt: Sie verdichten die Unüberschaubarkeit der Moderne und die Hilflosigkeit moderner Subjektivivität. Erfahrungen transitorischer Identität im dritten Lebensalter werden in der Interaktion zwischen den Leser/innen und den Romanen kreativ affiziert.

      In diesem ersten Teil der Arbeit wird die von Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl in ihrem Werk Zukunft Altern entwickelte umfassende Kreativitätstheorie der Alternsforschung sowie die von Thomas Rentsch in seinem Werk Negativität und praktische Vernunft, im Rahmen einer Ethik der späten Lebenszeit entfaltete philosophische Anthropologie des Alterns als eines „Werden(s) zu sich selbst“, kultursemiotisch auf den Rezeptionsprozess der Romane durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters bezogen.34 Die Theorie der Kreativität im Alter unterscheidet sich von neueren Sozialisationstheorien und eröffnet Sichtweisen auf die rezeptionsästhetische Haltung der Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Die in den Fokus genommenen gerontologischen Schlüsselkonzepte sind Generativität, Ich-Integrität und Gerotranszendenz als „Ausdrucksformen einer Kreativität im Alter“.35

      Die Schlüsselkonzepte sind eingebunden in eine Anthropologie des Alterns, die vor dem Hintergrund einer Diskriminierung Alternder im öffentlichen und privaten Bereich den Gestaltungswillen und die Gestaltungsfähigkeit Alternder in Bezug auf ein selbstorganisiertes Leben und in Bezug auf gesellschaftliche Mitverantwortung hervorhebt. Andreas Kruse, ein prominenter Vertreter dieser Theorie, hebt auf der Grundlage gerontologischer Forschungen anstelle einseitiger Diskriminierungs- und Belastungsdiskurse, Potenziale des Alters hervor, in denen sich zwei Perspektiven komplementär verbinden: „die Potenzialperspektive einerseits, die Verletzlichkeitsperspektive andererseits.“36 Die Potenzialperspektive hebt die potenziellen Energien Alternder hervor, die sie auch in Fällen von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung aufrechterhalten lässt. Die Verletzlichkeitsperspektive impliziert eine abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit, mit einer höheren Anfälligkeit für Erkrankungen im Alter. Alternden kann es gelingen, so Kruse, beide Perspektiven miteinander zu verbinden. Die Integration beider Perspektiven relativiert Belastungszenarien und ermöglicht Bildungs- und Therapieerfahrungen.37 In die Wechselbeziehung beider Perspektiven ist die im Vorverständnis der Rezipient/innen situierte Spannung zwischen dem ästhetischen Erfahrungspotenzial immanenter Transzendenzerfahrung und dem Bewusstsein menschlicher Mortalität eingebettet. Diese zum gerotranszendenten Vermögen Alternder gehörende Situierung macht das fruchtbare Moment im Erschließungsprozess der Romane aus.

      Die Nomenklatur der Theorie der Kreativität im Alter wird durchgängig in vorliegender Arbeit verwendet und differenziert auf den Rezeptionsprozess als Bildungspotenzial Alternder bezogen.38 Aus dieser Öffnung der Literaturdidaktik und institutionalisierten Kultursemiotik, die sich als Ergänzungsdiskurs zum bisher vertrauten Kategoriensystem der Literaturdidaktik versteht, ergibt sich der Schwerpunkt der Rezeption der ausgewählten Romane durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Ihr Blick richtet sich auf die poetische Praxis, auf das Wie der Ausdrucksgestalt des jeweiligen Romans und seine kulturgeschichtliche Bedeutung. Diese Rezeptionshaltung, die Kreativität und Selbstdenken evoziert, wird durch eine Drei-Phasen-Methode unterstützt. In kultursemiotischer Perspektive und in der Sichtweise moderner transitorischer Identitätserfahrungen entstehen innovative Romandeutungen der Romane Oliver Twist, Jane Eyre, Wuthering Heights und Mrs Dalloway.

      Der zweite Teil dieser Arbeit stellt das Konzept der Drei-Phasen-Methode vor. Dies ist ein Konzept, das durch das gelenkte literarische Seminargespräch und die ganzheitliche Romanlektüre in der Kombination zweier Herangehensweisen, des „Straight Through Approach“ und des „Segment Reading“39, die theoretischen Voraussetzungen des ersten Teils in die Praxis umzusetzen verspricht. Eine der aus diesem Konzept folgenden Konsequenzen sind Plausibilitäts- und Dispositionsfragen der Rezipient/innen an die ausgewählten Romane, die im Verlauf von vier Semestern – einem Roman pro Semester – in der Interaktion zwischen den Texten, Zusatzmaterialen und ihren Leser/innen erschlossen und reflektiert wurden.

      Die Ausführungen des dritten Teils erproben die theoretischen Prämissen des ersten und die Konzeption des zweiten Teils. Sie beziehen sich, in je einem Unterabschnitt, auf Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in ihrer Struktur die Ambivalenz der Moderne als sinnentwerfende Vieldeutigkeit und hermeneutisches Reflexionsangebot für Rezipient/innen des dritten Lebensalters und ihre komplexen Motivlage zum Ausdruck bringen. Da die Grundstruktur des Rezeptionsprozesses dialogisch ist, wechselt die Untersuchungsperspektive von der in den ersten beiden Teilen dargelegten Motivlage der Rezipient/innen auf die kultursemiotischen Deutungspotenziale der Romane, wobei die kontrovers oder zustimmend besprochenen Romanpassagen durch Hinweise auf Erschließungs- und Reflexionsmöglichkeiten der Rezipient/innen gekennzeichnet sind.

      Charles Dickens‘ Frühwerk Oliver Twist (1837) eröffnet, im Schatten Miguel Cervantes‘ und Laurence Sternes’ sowie vor dem Hintergrund der Ereignisse der Französischen Revolution, mit einem frühen unzuverlässigen Erzähler die Ausführungen im dritten Teil dieses Buches.

      Dickens‘ Werk Oliver Twist und Charlotte Brontës Roman Jane Eyre (1847), der in Gestalt einer fiktiven Autobiografie die Zeit des Hochkapitalismus und den Auflösungsprozess des Patriarchats in Großbritannien narrativ konfrontiert, werden einem eigenem Abschnitt zugeteilt. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Moderne kann einsichtig werden, dass beide Romane, trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungszeiten und gesellschaftlichen Hintergründe, in Gestalt der Paradoxie des poetischen Realismus ihre Protagonisten scheitern lassen und in die Grundauffassung einer auf Erfüllung angelegten Subjektivität einbetten. In der kulturgeschichtlichen Terminologie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen eines individualpsychologischen und, wie oben dargelegt, existenzialistischen Erzählens.

      Der Abschnitt zu Charles Dickens‘ Frühwerk Oliver Twist, mit dem der dritte Teil beginnt, fällt etwas umfangreicher als die dann folgenden Abschnitte zu den Romanen der Brontës und zu dem Virginia Woolfs aus. Das liegt daran, dass – entgegen älterer Forschung zu diesem Roman – Dickens‘ Oliver Twist innovative Erzählstrategien an den Tag legt, die ihn in den Deutungen der neueren Forschung zum Wegbereiter des modernen Romans bzw. zum modernen Roman werden lassen (Fludernik, Bowen, Cheadle beispielsweise). Diesen Deutungen, die den Roman als Ganzen in den Blick nehmen, gehen die Ausführungen im dritten Teil nach. Begleitet von eigenen Beobachtungen werden sie zu innovativen rezeptionsästhetischen Erschließungspotenzialen.

      Der zweite Abschnitt des dritten Teils wird durch Deutungen von Emily Brontës Roman Wuthering Heights (1847) und Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway (1925) beschlossen. Emily Brontës Roman antizipiert durch seine raffiniert gestaffelten dezentrierten Ich-Erzähler die Multiperspektivität der durch innere Monologe ineinandergreifenden, chiastischen Textstruktur von Mrs Dalloway, der exemplarisch für experimentelle Romane der klassischen Moderne anzusehen ist. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Moderne erkennt man, dass beide Romane, trotz der unterschiedlichen Epochen, in denen sie entstanden sind, durch die narrative Auflösung