Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist der Rekurs auf neurowissenschaftliche Ansätze auch deshalb problematisch, weil damit zumeist die Vorstellung verknüpft ist, Emotionen seien universale, kulturübergreifende, anthropologische Konstanten. Gerade mit Blick auf die mehrsprachige (Gegenwarts-)Literatur ist jedoch deren soziokulturelle Bedingtheit und historische Variabilität hervorzuheben. Exemplarisch für diese kulturwissenschaftliche Perspektive halten Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter grundlegend fest: „Emotionen sind immer nur über Sprache und andere Formen kultureller Repräsentationen ausdrückbar und vermittelbar […], wie sie ihrerseits durch Sprache und Repräsentationen (Codes) geformt werden. […] Emotionen sind immer nur näherungsweise bzw. ‚übersetzt‘ zugänglich und können nicht von ihrer kulturell geformten Vermittlung abgelöst werden.“6 Für die germanistische Literaturwissenschaft ist besonders die Studie von Simone Winko hervorzuheben, die Emotionen als einen „eigenständigen Kode“ begreift, der „zugleich selbst kulturell kodiert ist“7. Winko unterscheidet in ihrer Analyse lyrischer und poetologischer Texte um 1900 zwischen der Thematisierung von Emotionen und der Präsentation von impliziten Emotionen: Mit dem Begriff der Thematisierung werden Propositionen in einem Text bezeichnet, „die sich auf Emotionen beziehen und die meist explizit formuliert, oftmals aber auch nur umschrieben werden“8. Unter Präsentation hingegen versteht Winko die „sprachliche Gestaltung von Emotionen“, also sprachliche Bezugnahmen auf Emotionen, die „keine Propositionen über Emotionen, sondern die Emotionen selbst“9 vermitteln. Mit ihrer Ausarbeitung eines systematischen Beschreibungs- und Analyseinstrumentariums hat Winko für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung Ähnliches geleistet wie RadaelliRadaelli, Giulia für die Mehrsprachigkeitsforschung.10
Wie diese kurzen Schlaglichter deutlich machen sollten, hat sich die germanistische und kulturwissenschaftliche Forschung im deutschsprachigen Raum mit dem Thema Emotionen in den letzten Jahren intensiv befasst. Diese Auseinandersetzung stand – zusätzlich motiviert durch die neurowissenschaftliche Konjunktur des Themas – in einem zeichentheoretischen Rahmen: Sie zielt vornehmlich auf die historische Genese sowie die Vermitteltheit von Emotionen und ihre Kontingenz.
Affective turn
Der Begriff der Affektivität, wie er im Titel des vorliegenden Bands auftaucht, ist gegenüber dieser Forschungslinie durchaus anders konturiert: Inspiriert von den englischsprachigen affect studies, die in der Germanistik bislang kaum rezipiert wurden, soll mit ihm eine spezifische Perspektive auf Gefühle, Emotionen und Affekte zum Ausdruck gebracht werden, die über den kultursemiotischen Zugang hinausweist. Für die Unterscheidung von Emotions- und Affektforschung heißt das: Nicht der Text- und Zeichencharakter von Emotionen steht im Vordergrund der Analysen, sondern die Affektivität der Zeichen und Texte selbst, die sich in sprachlichen Bildern, im Klang, in der Schrift oder im Satzbau zeigen. In Abgrenzung zum heute geläufigen Begriff von Affekt als „Bezeichnung für starke Regungen“, mit einer „klare[n] Bedeutungstendenz in Richtung des emotional Negativen“1, geht diese Perspektive auf ein grundlegend relationales Verständnis von Affekten und Emotionen zurück.
Eingeleitet wurde diese neuere Diskussion des Affektbegriffs durch zwei programmatische Aufsätze aus dem Jahr 1995: Zum einen „Shame in the Cybernetic Fold“2 von Eve Kosofsky SedgwickSedgwick, Eve Kosofsky und Adam FrankFrank, Adam sowie zum anderen „The Autonomy of Affect“3 von Brian MassumiMassumi, Brian. Während erstere das Anliegen verfolgen, die Affekttheorie des amerikanischen Psychologen Silvan TomkinsTomkins, Silvan in die humanities einzuführen und sich dabei dezidiert gegen deren habitualisierten Anti-Biologismus richten, greift letzterer auf eine durch SpinozaSpinoza, Baruch de und DeleuzeDeleuze, Gilles inspirierte Denktradition zurück, um ‚Affekt‘ von ‚Emotion‘ zu unterscheiden. In Massumis Vorstellung folgen Affekte und Emotionen „different logics and pertain to different orders“4. MassumiMassumi, Brian begreift den Affekt als präreflexive, vor- oder über-individuelle, nicht-sprachlich strukturierte („not semantically or semiotically ordered“5) Intensität, die eine gewisse Autonomie besitzt und nie restlos in kulturellen Codes und Bedeutungen aufgehen kann. Emotionen sind MassumiMassumi, Brian zufolge als „unvollständige[r] Ausdruck eines Affekts“6 zu verstehen. Das heißt, Emotionen sind Affekten stets nachgelagert. Die Emotion ist das Ergebnis einer Transformation: Sie ist gewissermaßen der Affekt im Aggregatzustand seiner Bändigung („capture“).
Als ein weiterer Schritt in der Formierung des Feldes kann The Affect Theory Reader gelten, der 2010 von Gregory J. SeigworthSeigworth, Gregory J. und Melissa GreggGregg, Melissa herausgegeben wurde und wichtige Vertreterinnen und Vertreter dieser neuen Forschungsrichtung versammelt: Sara AhmedAhmed, Sara, Lauren BerlantBerlant, Lauren, Patricia T. CloughClough, Patricia T., Anna GibbsGibbs, Anna, Lawrence GrossbergGrossberg, Lawrence, Kathleen StewartStewart, Kathleen, Nigel ThriftThrift, Nigel – um nur einige zu nennen. Seigworth und Gregg versuchen in ihrer eher essayistischen Einleitung ihr Anliegen zu formulieren. In Form einer Aufzählung rekapitulieren sie die immense Bandbreite des schillernden Affekt-Begriffs und seiner verschiedenen Bestimmungen als „excess, as autonomous, as impersonal, as the ineffable, as the ongoingness of process, as pedagogic-aesthetic, as virtual, as shareable (mimetic), as sticky, as collective, as contingency, as threshold or conversion point, as immanence of potential (futurity), as the open, as a vibrant incoherence that circulates about zones of cliché and convention, as the gathering place of accumulative dispositions“7. Die Liste verdeutlicht, dass sich unter der Bezeichnung affect studies heterogene Konzepte versammeln, die kein kohärentes Gesamtbild erzeugen. Welches „Versprechen“8, um im emphatischen Duktus des Affect Theory Readers zu bleiben, hält der Affekt-Begriff also für die Literaturwissenschaft bereit?
Autorinnen wie Sara AhmedAhmed, Sara oder Lauren BerlantBerlant, Lauren unterziehen in ihren Studien die Idee des Glücks oder des sogenannten ‚guten Lebens‘ einer kulturwissenschaftlichen Analyse und erhellen ihre Verwobenheit mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und heteronormativen Strukturen.9 Ann CvetkovichCvetkovich, Ann befasst sich mit Emotionen wie Depression und „feeling bad“ und macht dabei das Politische im vermeintlich Privaten sichtbar.10 Dem transformativen Potenzial affektiver Dissonanz geht das Konzept der „affektiven Solidarität“ (affective solidarity) von Clare Hemmings nach.11 Das Konzept des belonging thematisiert die emotionale Dimension von Zugehörigkeiten im Kontext von transkultureller Mobilität und globalen Migrationsprozessen.12 Eine ganze Reihe von Untersuchungen widmet sich der Rolle von Emotionen und Affekten in der Arbeitswelt des gegenwärtigen Kapitalismus: angefangen vom Konzept der affective labour, wie es Michael HardtHardt, Michael und Antonio NegriNegri, Antonio entworfen haben, über Melissa GreggsGregg, Melissa Buch Work’s Intimacy (2011) und die Studie Affektives Kapital (2016) von Otto Penz und Birgit Sauer bis hin zu Rainer Mühlhoffs Dissertationsschrift Immersive Macht (2018).13 Diese Beispiele illustrieren die gesellschaftskritische Reichweite des Affekt-Begriffs und sie zeigen zudem, dass weite Teile der affect studies aus der feministischen Theoriebildung hervorgegangen sind.14 Vor dem Hintergrund der poststrukturalistisch dominierten Debatte um die primär diskursive Konstruktion von Geschlecht bietet der Affektbegriff eine neue Perspektive, die die soziale und historische Bedingtheit von Geschlecht (wieder) mit Fragen nach seiner Materialität und Körperlichkeit verbinden kann. Die von DeleuzeDeleuze, Gilles und MassumiMassumi, Brian geprägte Unterscheidung von unmittelbarem Affekt und diskursiven Emotionen wird in diesem Kontext daher häufig hinterfragt oder gänzlich zurückgewiesen. So unterscheidet Ahmed etwa bewusst nicht zwischen beiden Begriffen, sondern geht im Anschluss an postkoloniale Theorie und Phänomenologie von einem kontinuierlichen Verhältnis aus. Affekt versteht sie als eine Dynamik, die Körper auf bestimmte Weise orientiert und den historischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen entsprechend ungleich wirksam ist; stets werden „some bodies more than others“15 affiziert.
Die Schlaglichter auf die neuere Affektforschung verdeutlichen aber auch, dass nur wenige Arbeiten aus dem Bereich der affect studies explizit der Frage sprachlicher bzw. literarischer Affektivität nachgehen. Fokussiert wird vielmehr auf jene Dimensionen des Sozialen, die sich sprachlicher Repräsentation entziehen. Zumindest in ihren Anfängen haben die affect studies Sprache und Affekt als Gegensätze konzeptualisiert und sich damit gegen die dominante