Wolfgang Butzkamm

Wie Kinder sprechen lernen


Скачать книгу

in andere entwickeln sich miteinander. Milan, noch nicht ganz fünf, fliegt mit seinem Vater nach Argentinien. Da sagt er vor der Abreise aus Frankreich, wo sie leben: »Maman, tu me manques, et moi, je te manque.« (Du fehlst mir und ich fehle dir.) So einfühlsam können Kinder sein. Zwischenmenschliche Intelligenz ist zwar schon ein Geburtsrecht des Kindes, bedarf aber auch der Mutter-Kind-Symbiose, um heranzureifen. Die Kindheit, später die Pubertät, sind wahrscheinlich besondere Zeitfenster, um diese Intelligenz zu formen. Wir haben es hier mit einem Komplex von Fähigkeiten zu tun, die weiter unterteilt werden könnten. Daher auch die unterschiedlichen Bezeichnungen: zwischenmenschlich/sozial/personal/kommunikativ. GolemanGoleman, Daniel hat diesen Bereich bestsellerwirksam als »emotionale Intelligenz (EQ)« bezeichnet. Darin steckt dann ein ganzer Tugendkatalog. Ihm wie GardnerGardner, Howard geht es darum, andere Fähigkeiten gegenüber dem bekannten IQ aufzuwerten.1 Zwar sind Gefühle per se weder intelligent noch dumm. Sie sind einfach da, fragen auch nicht danach, ob sie berechtigt sind oder nicht. Es geht dann darum, die eigenen und die der anderen zu beobachten, zu verstehen und klug mit ihnen umzugehen. Gefühle sagen uns selbst und unserem Gegenüber, was uns momentan bewegt, welcher Antrieb uns beherrscht. Gefühle sind Dauerbegleiter unseres Tuns. All unser Wissen und Verstehen, Tun und Lassen sind emotional eingefärbt. Was wir aus der Selbstbeobachtung wissen, bestätigt uns die moderne Hirnforschung. Ständig schießen Impulse hin und her zwischen der Großhirnrinde, in der Wahrnehmen, Denken, Erinnern stattfinden, und einem anderen Hirnteil, dem limbischen System mit dem sog. Mandelkern, das für Triebe, Affekte und die gefühlsmäßige Bewertung des Tuns zuständig ist. Ohne solche Mithilfe der Gefühle wären wir entscheidungsunfähig, würden uns im endlosen Für und Wider verfransen.Damasio, Antonio2

      Ein Schritt auf dem Weg, die eigenen Gefühle und die der anderen richtig zu deuten, sind die Phantasie-Phantasiespiele, Fiktions-, Illusions- oder Deutungsspiele sowie die eigentlichen RollenspieleRollenspiele, die etwa im zweiten Lebensjahr auftreten und im dritten bis sechsten Jahr überschwenglich gespielt werden. Dabei kann sich alles in alles verwandeln, und die Rollen werden ohne Schwierigkeit gewechselt: Gast und Gastgeber, Kunde, Kassierer und Kaufmann, Autofahrer und Astronaut. Als Fiktionsspiele und Rollenspiele listet Charlotte BühlerBühler, Charlotte auf:

      Am Finger rauchen, den Stuhl mit Papier abstauben, das Spielzeug füttern, streicheln, mit ihm sprechen, Puppe und Papagei wie einen Kameraden behandeln, Schlafen spielen, sich in die Rolle der Tante, des Schornsteinfegers, Schaffners, Soldaten, Kutschers, Kellners, Kaufmanns, Briefträgers, Großvaters und Jägers hineinversetzen, sich zu einem Affen, Löwen, Hund oder zu Rotkäppchen und Wolf machen.3

      Die Mutter hat Lukas (1;9) gehäkelte Fingerpuppen aufgesteckt und singt dazu ein Liedchen: »Alle meine Fingerlein/wollen lustige Tiere sein. Dieser Daumen dick und rund/ist der schwarze Schäferhund …« Lukas singt die Reimwörter am Zeilenende mit.

      Es macht nichts, daß die Fingerpuppen Giraffe und Pfau darstellen, die im Lied nicht vorkommen. Im Gegenteil. Es geht auch ohne Puppen. Die Kinder haben keine Schwierigkeiten, im nackten Daumen den schwarzen Schäferhund zu sehen usw. Das wäre das »symbolische« oder »Als-ob-SpielAls-ob-Spiel« (vgl. S. 124ff.).

      Das Kind versenkt sich in unterschiedlichste Rollen und spürt beim Ausagieren ihrem Gefühlsgehalt nach. Wie ist das, wenn man Briefträger ist und die Post durch den Türschlitz steckt, hinter dem ein Hund wütend kläfft? Das Kind lernt sich selbst auf dem Umweg über das Bewußtsein von anderen kennen. Indem es andere nachahmt oder darstellt, d.h. sich mit einem Nicht-Ich identifiziert, erreicht es »ein kontrastierendes Selbstgefühl«.4

      Worin könnte nun – im Unterschied zur kommunikativen – eine ausgesprochene sprachliche IntelligenzIntelligenz, IQ-Testsprachliche Intelligenz im engeren Sinne bestehen? Dazu gehören auf jeden Fall ein besonderes Ohr für den typischen Tonfall einer Person, ihre typische Sprechweise, ihren verbalen Habitus, auch eine bestimmte Leichtigkeit, Dialektalisches aufzunehmen und wiederzugeben, dazu wohl auch die Neigung zu allerlei Wortverdrehungen und Wortspielereien. Es sind Gaben, die man am ehesten bei Künstlern des gesprochenen Wortes, Kabarettisten, Parodisten, auch Stimmenimitatoren findet, die sich im Nu sprachlich-gestisch-mimisch in einen anderen Menschen verwandeln können und diesen Menschen durch seine Sprache darstellen und entlarven können. Es sind meist auch Menschen mit Lust am Fabulieren, geborene Erzähler und genaue Beschreiber mit einem guten Gedächtnis für die verbalen Macken und Ticks ihrer Mitmenschen. Und etwas ganz Eigenartiges, Verschrobenes: professionelle Rückwärtssprecher. Sprachlich begabt sind auch die brillanten Plauderer und Verbalisierer, die sich einfach gut ausdrücken können, in jeder Diskussion mitreden, sich in Szene setzen und auch einmal fehlende Ideen durch geschickte Rhetorik überdecken oder sich herausreden können. Hier kommen sich sprachliche und kommunikative Intelligenz sehr nahe. Ein anderer Baustein könnte die Begabung sein, mehrere Fremdsprachen zugleich fließend sprechen (und behalten) zu können. Ein Sprachgenie wie Georg Sauerwein soll an die sechzig Sprachen beherrscht haben. Unfaßbar!5 Hinzuzurechnen wäre wohl auch die Sprachgewandtheit des guten Übersetzers: Hierin kann er dem Autor, den er übersetzt, durchaus ebenbürtig sein. Was ihm der Autor voraus hat, sind andere Eigenschaften wie etwa die Originalität des Denkens, die erfinderische Kraft, die kompositorische Gabe oder die Intensität des Gefühls. Andererseits sind Ideenlieferanten und Denker mit Tiefgang nicht zwingend auch besonders sprachmächtig.

      Die Forschung differenziert und sortiert verschiedene Fähigkeiten, die im Menschen aber stets zusammenspielen. Das »Erkenne dich selbst« ist für jeden eine Aufgabe, die ganz früh einsetzt und nicht, so lehren uns die Kinder, auf dem Weg monologischer Selbstversenkung ans Ziel gelangt. Zwar geht die Eigenerfahrung oft voraus: Ich verstehe, daß andere hungrig sind, weil ich Hunger schon selbst verspürt habe. Aber es gibt auch den umgekehrten Weg: Weil dem Kind Liebe entgegenschlägt, entdeckt es Liebe schließlich auch in sich selbst. »Ich bin richtig traurig« sagt die Mutter, und das Kind beginnt nachzufühlen und zu begreifen, was Traurigsein ist. Das Verstehen der eigenen Gefühlswelt wie der Innerlichkeit der anderen ist an Kommunikation gebunden. Und hier sind Kinder zunächst mehr Empfänger als Geber. Menschen sind soziale Wesen; sie finden sich, indem sie Zwiesprache mit anderen, dann aber, und sich daraus entwickelnd, ZwiespracheDialog mit sich selbst halten. Der Mensch, der mit sich spricht, hat in sich selbst ein Gegenüber gefunden. Er ist ein sprechendes Wesen, nach Kant das einzige, das sich zu sich selbst verhalten und »Ich« sagen kann.

      Sicherheit durch personale Bindung

      So finden in den ersten Lebensjahren wichtige Entwicklungen auf vielen Ebenen zugleich statt. Das herausragende Thema gerade auch im Hinblick auf Sprache ist das kindliche Bedürfnis nach BindungBindung, personale B., die Entwicklung zum sozialen Wesen, das Aufeinander-Eingehen und Miteinander-Umgehen-Können. Zunächst bildet sich die Fähigkeit heraus, sich auf den Partner einzustimmen (das ist ganz buchstäblich gemeint) und sich gefühlsmäßig mit ihm auszutauschen.

      Die seelische Not schwer hörgeschädigter und noch sprachloser Kinder macht uns auf das Zusammenspiel von Körper- und Lautsprache aufmerksam. Sie können ja zunächst nur abgucken und nachahmen, sind beim Verstehen oft ganz auf das Mienenspiel angewiesen. Wenn man ihnen etwas abschlagen muß, gehört zur verneinenden Geste auch die strenge Miene. Wie einfach haben wir es dagegen, wenn wir ein notwendiges »Nein« mit einem freundlichen Blick und herzlichem Ton begleiten können, mit Körpersprache, die unmißverständlich signalisiert: »Ich hab dich lieb, es ist nicht bös gemeint.« Wieviel einfacher ist es, wenn wir unser »Nein« erklären und um Verständnis werben können!

      Berühmt geworden sind Harry F. HarlowsHarlow, Harry und Margaret Beobachtungen an Rhesusäffchen, die er isoliert von ihren Müttern aufzog, ohne es sonst an etwas fehlen zu lassen.1 Als sie später in die Affengemeinschaft entlassen werden, zeigen sie kein Interesse an anderen, spielen nicht mit, wippen, wie man es auch bei Autisten beobachtet hat, oft stundenlang stumpfsinnig hin und her, kneifen sich an immer derselben Stelle, bis sie bluten, sind entweder übermäßig aggressiv oder ängstlich und als Sexualpartner ungeeignet. Kurz: Sie erweisen sich als asozial und letztlich lebensuntauglich. Ebenso wurden in Einzelboxen