Sprechsituation feierte Karl BühlerBühler, Karl als »die Erlösung der Sprache aus dem Zeigfeld«, für ihn ein entscheidender »BefreiungsschrittDenkenFreiheit des Denkens (durch Sprache) … im Werdegang der Menschensprache«.1 Einer mit noch unabsehbaren Folgen. Denn das Nicht-Hier und Nicht-Jetzt werden mitteilbar, dann auch das Fiktive, bloß Ausgedachte und Fantasierte. Die Dinge, die Ereignisse, die anderen – kurz die ganze Welt – können wir jetzt im Kopf ordnen, uns zurecht legen und zurecht rücken; im Geiste können wir damit umspringen, wie wir wollen, auch mit uns selbst. Lesen wir ein Buch, so werden wir allein durch Sprache in die abenteuerlichsten Ereignisse verstrickt. Wenn wir es ihm gestatten, kann sich ein Stück fremdes Bewußtsein – das des Schreibers – über Abgründe von Zeit und Raum hinweg in unserem eigenen einnisten. Wie alle anderen Geschöpfe hat auch der Mensch nur ein Leben. Aber nur ihm ist es geschenkt, durch Wort und Schrift zugleich tausend andere Leben mitzuleben.
Zur weltabbildenden Funktion der Sprache kommt die welterzeugende. Damit ist der Mensch nicht bloß das Tier, das schlicht eine weitere Nische, eben die kognitive, besetzt. Mit seiner Sprache ist er mehr als nur Tier unter TierenMensch-Tier-Vergleich.
Die Welt wird Wort
Die Worte der Kindheit – diese unsre frühen Gespielen in der Morgenröte des Lebens, mit denen sich unsre ganze Seele zusammen bildete…
(Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried)
Die Sprache gleicht dem im Stein schlummernden Feuerfunken. Ehe man gelernt hatte, ihn hervorzulocken, schien sein Dasein nur durch ein Wunder erklärlich. Einmal entzündet, pflanzte er sich mit unglaublicher Leichtigkeit fort.
(Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von)
ArtikulationsproblemeArtikulation
Mit Spannung erwarten wir das erste Wort aus dem Mund unseres Kindes. Wird es Mama oder Papa sein? Solche Silbenverdoppelungen, in denen die zweite Silbe die erste wie ein Echo verstärkt, begegnen uns ja schon in den Lallmonologen der Babys und ziehen uns vielleicht deshalb auch später noch magisch an: Lolo, Dodo, Joujou … Noch ein anderes, besonders wichtiges Wort entnehmen wir dem SilbenplappernSilbenplappern des Babys: ba für alles, was das Baby nicht an den Mund führen oder tun soll, oder verdoppelt als baba – vielleicht weil wir ganz sicher sein wollen, daß das Baby uns gut versteht.1
Was darf als erstes selbständig gebrauchtes Wort gelten? Eigentlich nicht das, was nur direkt nachgeplappert wird. Es sollte spontan gebraucht werden, mit klarer Bedeutungszuordnung. Mama und Papa haben gute Chancen, es sind die anatomisch wahrscheinlichsten Erstsilben: bei /p/ und /m/ sind die Lippen fest geschlossen und öffnen sich voll zum /a/-Vokal. Es gilt das Prinzip des maximalen Kontrasts: der ganz geschlossene, dann der ganz geöffnete Mund. In vielen Sprachen der Welt fungieren diese Silben denn auch als Namen für Vater und Mutter, zusammen mit der Silbe /ta/, wo der Verschluß statt von den Lippen von den Zähnen gebildet wird. Die »weichen« Varianten /ba/ und /da/ gehören ebenfalls dazu, ja, sind anfangs von /pa/ und /ta/ kaum zu unterscheiden. /k/ und /g/ bilden den Verschluß im hinteren Mundraum, kommen meist später und werden zunächst in typischer Weise durch schon beherrschte Laute ersetzt, also »tomm« statt »komm«. Noch länger lassen l und r auf sich warten, also kann man oft »Tampe« statt »Lampe« und »hot« statt »rot« hören. Viel später kommen die schwierigen Laute, die man auch aus dem Fremdsprachenunterricht kennt, wie die französischen Nasalvokale, bei denen die Luft durch Mund und Nase gleichzeitig entweichen muß, und das englische »th«, bei dem die Zungenspitze die oberen Schneidezähne nur ganz leicht touchieren darf. Alec Guinness erinnert sich, daß es ihm noch als Zehnjährigem gelegentlich passierte, das »th« durch /f/ zu ersetzen, was ihm einmal eine gehörige Abreibung einbrachte: er hatte beim Vorlesen einen Bibelvers verhunzt. Bleiben noch hintereinander hängende Konsonanten, die zunächst auf einen Konsonanten reduziert werden, also »Neemann« statt »Schneemann«, »Piegel« statt »Spiegel« oder auch »neifen« statt »kneifen«. Man denke auch hier ans Englische, wo das k vor n überall gefallen ist wie in know und knife: Waren die Kinder das Vorbild?
Beim Lauterwerb heißt es abwarten, gelegentliches Nachsprechenlassen zeigt das sehr deutlich, wie bei der sprechfreudigen Hilde Stern, die schon Mehrwortsätze kann und sich hier richtig Mühe gibt:
Wir zeigten ihr gestern eine Nelke und nannten den Namen; sie sprach »lenke« nach. Wiederholtes noch so deutliches, fast skandierendes Vorsprechen hatte stets den gleichen Erfolg, ebenso heute. Auch »nalke« und »nolke« wurden »lanke« und »lonke« gesprochen; für »melke« sagte sie »blenke«.
Maria (1;10) nimmt das eben betrachtete und bereits zur Seite gelegte Bilderbuch erneut, schlägt zufällig das Bild eines Kuchens auf, zeigt darauf und äußert zur daneben sitzenden Mutter: | |
Maria: | Das? |
Mutter: | Hm. |
Maria: | Puchen. |
Mutter: | Sag ma Kuchen, k, Kuchen. |
Maria: | Ne. |
Mutter: | Kuchen heißt das aber! |
Maria: | Ne. |
Mutter: | Ne? |
Maria: | Puchen heißt das. |
Mutter: | Naja, da kann man sich streiten.2 |
Hildes Bruder ersetzt die meisten Anfangskonsonanten durch ein h, sagt z.B. »heis« statt »Reis.« Als ihm die Mutter einmal das Wort so recht schnarrend vorspricht: »rrreis«, wiederholt er eifrig »rrr-heis«. Präzise Lautproduktion ist ein schwieriges Geschäft, ihre Perfektionierung kostet einfach Zeit.
Die Reihenfolge bei der Eroberung des Lautsystems ist nachvollziehbar und zu einem Teil biomechanisch erklärbar, denn der normale Weg ist immer vom Einfachen zum Schwierigen. »Puchen« statt »Kuchen« ist eine Vorverlagerung. Der Hinterzungenlaut k wird durch den Lippenlaut p ersetzt. »Boop« statt »Boot« ist eine sog. Harmonisierung oder Lautangleichung: t wird zu p unter dem Einfluß des anlautenden b. Beides sind Lippenlaute, das ganze Wort bleibt somit bilabial. Die eingangs erwähnten Silbenverdoppelungen könnten ein Trick sein, auf einfache Weise zu deutlichen, stabilen Lautungen zu kommen: pieke pieke (Stecknadel), putze putze (Bürste), singe singe (Hilde Stern), wie Wauwau oder Wehweh. Aber genau genommen gibt es nur Wahrscheinlichkeiten, es kann auch etwas anders kommen. Wie bei der kindlichen Entwicklung überhaupt, verläuft beim stufenweisen Lauterwerb nicht alles nach Plan (Vielleicht durchschauen wir auch den Plan der Natur noch nicht gut genug). Ein Kind kann sich mit einem Wort besonders Mühe geben, das ihm Eindruck gemacht hat, und schon ist das schöne Erwerbsschema durchkreuzt. Es gibt für manches Gegenbelege, und doch ist die Entwicklung im Ganzen wieder stimmig. Ein neuer Ansatz versucht nun nicht einfach den Zeitpunkt des Auftretens einzelner Laute zu registrieren, sondern die Lautentwicklung zu den typischen Silbenstrukturen und Betonungsmustern des Deutschen in Beziehung zu setzen und damit die sprachimmanente Entwicklungslogik deutscher Wortkörper durchsichtiger zu machen. Das liest sich wie folgt:
Vereinfachungen wie »Blume« zu »Bume« betreffen Onsetverzweigungen, die der Sonoritätshierarchie entsprechen. Sie deuten daraufhin, dass das Kind noch nicht entdeckt hat, dass der Silbenanlaut im Deutschen entweder einfach oder verzweigend realisiert werden kann. Die Vereinfachungen des Typs »Strand« zu »Rand« sind von einer anderen Qualität. Sie ergeben sich, wenn das Kind die sprachspezifische Option einer Verletzung des Sonoritätsprinzips durch die Bildung eines Appendix im linken Silbenrand in sein parametrisches Repertoire noch nicht aufgenommen hat.3
Das ist beileibe kein Unsinn und auch nicht unnötig kompliziert gesagt. Es bedarf einfach Spezialwissens, das wir hier nicht darlegen können,