welchem linguistischen Instrumentarium Sätze bzw. Textbausteine zu beschreiben sind, wenn sie keine Vollsätze bzw. elliptisch sind (3.2).1
3.1 Strukturell-grammatische Textauffassungen der 1960er-Jahre
3.1.1 Text als transphrastische Einheit: Die Satzverknüpfungshypothese
Bis zur Herausbildung der Textlinguistik Mitte der 1960er-Jahre galt der Satz als die oberste linguistische Bezugseinheit, wobei die syntaktische Forschung bis dahin im Wesentlichen auf den Einzelsatz beschränkt war. Aufgrund der Existenz einer Vielzahl von sprachlichen (grammatischen) Phänomenen, die allein mit Blick auf den (isolierten) Satz nicht zu erklären sind, wurde dieser Ansatz mit der Herausbildung der Textgrammatik überwunden, und zwar zunächst im Sinne eines Erweiterungspostulats. Demnach wurden Texte allgemein als phrasen- bzw. satzübergreifende (transphrastischetransphrastisch) Einheiten gekennzeichnet.
Als das ‚primäre sprachliche Zeichen‘ und damit die oberste und unabhängigste linguistische Einheit galt nun nicht mehr der Satz, sondern der Text. Das war der Ausgangspunkt für die Herausbildung der Textlinguistik als eigenständige linguistische Disziplin, die auf einer Fachtagung zu Fragen der Textlinguistik im Jahre 1968 in Konstanz versuchte, ihren Gegenstand zu konstituieren. In seinem Grundsatzreferat „Texte als linguistisches Objekt“ stellte Hartmann (1971) insgesamt zwölf Thesen auf, in denen die Vorzüge einer Textlinguistik gegenüber der bisherigen (System-)Linguistik herausgearbeitet wurden. Bemerkenswert ist für den damaligen Zeitpunkt die These 10:
Mit der Behandlung von Textgegebenheiten werden neben Gesichtspunkten der Textbildungsnorm auch Gesichtspunkte der Sprachverwendung wichtig, zumal das Herstellen von Texten anderen Regeln unterliegt als das Herstellen von (sprachrichtigen) Sätzen und von einem erheblich breiteren Spektrum von Voraussetzungen und Zwecken bestimmt wird. (Hartmann 1971: 25)
Diese These sei hier herausgehoben, weil sie bereits 1968 in theoretisch und programmatisch richtungsweisender Formulierung ausweist, dass mit der Textlinguistik ein kompletter Neuansatz in der linguistischen Forschung verbunden sein musste, der vor allem in einer Abkehr von der ausschließlichen Konzentration auf das Sprachsystem und einer Hinwendung zum Sprachgebrauch besteht.
Allerdings wurde diese Wende naturgemäß nicht mit einem Mal vollzogen. Zu beachten ist beispielsweise ein sehr früher Beitrag von Oomen (1971) mit dem Titel „Systemtheorie der Texte“. Der Beitrag kritisiert früh die lineare Ausweitung grammatischer Analysen auf den Text und rückt den Text in die Nähe von performance oder Sprachverwendung. Von daher sieht Oomen (1970: 16) sprachliche Merkmale von Texten als Merkmale des Textablaufs und nicht als solche der Grammatik. Als Theorie einer Textlinguistik, die den Text als System mit einer bestimmten, die Struktur/Komponenten determinierenden Mitteilungsfunktion fundieren kann, schlägt Oomen die Systemtheorie vor. Letztlich führt der Beitrag in den Ansatz, dass die jeweilige KommunikationsfunktionKommunikationsfunktion den spezifischen Ablauf des Textprozesses steuert. „Texttypen unterscheiden sich durch ihre Textformation, TexttypenTexttyp unterscheiden sich nicht generell durch die ihnen zugrundeliegende Grammatik.“ (Oomen 1971: 20) Dieser hier noch strukturalistische Ansatz, der die kommunikativ-pragmatische Konstellation der Elemente-Funktions-Relation in den Blick nimmt, dominiert die Textlinguistik jedoch erst viel später.
So bleiben viele der Anfangsarbeiten einer sprachsystematischen Betrachtung verhaftet. Zu einer wirklich prinzipiellen Änderung der sprachtheoretischen Grundlagen kam es zunächst nicht (vgl. Brinker 62005: 12ff.). Das wird auch in einigen der frühen Textdefinitionen deutlich, etwa bei Isenberg (siehe 1971: 155) und Agricola (1970: 85, 88), die den Text als eine „Folge von Sätzen“ begreifen, die durch VertextungsmittelVertextungsmittel (Konjunktionen, Pronomina, Proadverbien, Satzadverbien u.a.) miteinander verknüpft sind. Unübersehbar ist die Grundannahme, wonach der Satz als die Struktureinheit des Textes gilt.
Der transphrastischetransphrastisch (satzübergreifende) Ansatz geht davon aus, dass „Texte strukturelle Einheiten vom gleichen Typ wie Sätze sind, nur umfangreicher“ (Vater 1992: 20). Deshalb könne man Texte im Wesentlichen mit dem in der strukturalistischen und später auch mit dem in der generativ-transformationellen Linguistik bewährten Instrumentarium beschreiben.
Kennzeichnend für diese erste Phase der Textlinguistik war – und zwar in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen –, dass die Hierarchie der bis dahin angenommenen Einheiten des sprachlichen Systems (Phonem, Morphem, Wort, Satzglied, Satz) um die Einheit ‚Text‘ erweitert wurde. Verändert wurde also nicht das theoretische Grundkonzept, sondern lediglich die „Domäne“ der Grammatik (vgl. Heinemann/Viehweger 1991: 26). Darin drückt sich die Auffassung aus, dass die Textbildung (wie die Satzbildung) durch das Regelsystem der Sprache gesteuert wird und auf allgemeinen, sprachsystematisch zu erklärenden Gesetzmäßigkeiten beruht.
Ziel der Textgrammatik müsse es daher sein herauszufinden, nach welchen strukturellen Prinzipien Texte konstituiert werden. Dabei ging man von der Grundannahme aus, dass das Problem der Verknüpfung von Sätzen als Grundlage und Voraussetzung für die Erklärung von Texterzeugungsprozessen anzusehen sei. Deshalb musste es vor allem darum gehen, Regeln für die Verknüpfung von Sätzen herzuleiten. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Pronominalisierung.
3.1.2 Textkonstitution und PronominalisierungPronominalisierung
Mit seiner 1962–64 entstandenen und 1968 (21979) publizierten Habilitationsschrift „Pronomina und Textkonstitution“ hat Roland Harweg eine erste groß angelegte Untersuchung über die Organisation von Texten und damit die erste wichtige Monographie vorgelegt, die die Entwicklung der Textlinguistik nachhaltig beeinflusst hat. Seine eigene Position in Bezug auf den Text sieht Harweg als strukturalistisch mit Merkmalen einer generativistischen Grundhaltung, die in der Unterscheidung von zwei Textbegriffen – des ETISCHENetisch (performanzorientiert) und des EMISCHENemisch (kompetenzorientiert) – zum Ausdruck kommt. Für die Erstellung wohlgeformter Texte bilde das Verfahren der Pronominalisierung eine entscheidende Rolle. Kompetente Sprecher/Schreiber sind danach in der Lage, das Verfahren der Pronominalisierung zur Textkonstituierung anzuwenden (vgl. Harweg 21979: V). Von daher definiert er Text als „ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten“ (Harweg 1968: 148).
Harweg verdeutlicht, dass er die pronominale Verkettung als textkonstitutiv ansieht, sie ist für eine Textdefinition unabdingbar:
Unser Textdefiniens verlangt ununterbrochene pronominale Verkettung. Eine Unterbrechung dieser Verkettung würde folglich die Grenzen, d.h. Anfang und Ende eines spezifischen Textes markieren. (Harweg 1968: 148)
Harweg zeigt in seiner Arbeit, in welcher Weise die Ersetzung eines sprachlichen Ausdrucks durch einen anderen sprachlichen Ausdruck erfolgt. Ersetzende Elemente (Substituentia) und zu ersetzende Elemente (Substituenda) wirken in der Textkonstitution zusammen. Als „reinste und prägnanteste Repräsentanten der Pronominalität“ sieht er die Pronomen er/sie/es (Harweg 21979: 25). Die Besonderheiten von Pronomen liegen im „Phänomen der Substitution“ (ebd.: 17). Pronomen ermöglichen in prototypischer Weise eine zweidimensionale Substitution – sie können einen Ausdruck an einem Punkt der Redekette ersetzen (PARADIGMATISCHE SUBSTITUTION), und sie vermögen es, in der Ersetzung sprachlicher Mittel von einem Satz zum nächsten Beziehungen herzustellen (SYNTAGMATISCHE SUBSTITUTION).
Es werden dann jedoch alle ersetzenden Elemente als Pronominalisierungen definiert, also z.B. auch Synonyme, Hyperonyme, Metaphern, Metonymien und andere Ersetzungen (vgl. Sowinski 1983: 24).
Harweg räumt aber zu Recht ein, dass mit bestimmten Texten zu rechnen ist, „die das Konstitutionsprinzip pronominaler Verkettung nicht erfüllen. Es sind dies in jedem Fall Texte, die zu kurz sind, um das genannte Prinzip erfüllen zu können, so z.B. gewisse aus einem Satz bestehende Aphorismen“ (Harweg 1968: 149).
Pronominalisierung im Sinne Harwegs zeigt sich im Prinzip der WIEDERAUFNAHMEWiederaufnahme, das im Folgenden in seinen Verfahren an Textbeispielen illustriert werden soll.
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