Matthias Sammer
Eine Begründung für die Existenz eingliedriger Einheiten findet sich bereits bei Paul:
Damit eine Mitteilung zustande kommt, muß die durch ein Wort ins Bewußtsein gerufene Vorstellung erst an eine andere geknüpft werden. Dies geschieht in der Regel dadurch, daß mindestens ein zweites Wort hinzugefügt wird […] Allerdings kann eine Mitteilung […] auch durch das Aussprechen eines einzelnen Wortes gemacht werden. Aber auch dann muß die Vorstellung, welche die Bedeutung des Wortes ausmacht, an eine andere unausgesprochene angeknüpft werden, die durch die Situation gegeben ist. Wenn z.B. jemand den Angst- oder Hilferuf Diebe ausstößt, so will er, daß der Allgemeinbegriff Diebe mit einer von ihm in dem Augenblick gemachten Wahrnehmung in Beziehung gesetzt werde […] Es darf überhaupt nicht übersehen werden, daß zum Verstehen des Gesprochenen die Situation vieles beiträgt und daß daher der Sprechende, weil er mit der Ergänzung durch die Situation rechnet, vieles unausgesprochen läßt. (Paul 1919: 3f.)
Neben diesen Formen syntaktischer Basiseinheiten gilt es natürlich auch in einer Textgrammatik, die in komplexere Einheiten eingebetteten abhängigen Strukturen zu kategorisieren, die jeweils als Glied bzw. Gliedteil der übergeordneten Einheit fungieren. Zu diesen syntaktisch sekundären Einheiten zählen Nebensätze und eingebettete Wortgruppen wie Substantivgruppen, präpositionale, infinitivische und partizipiale Wortgruppen, wie sie in jeder traditionellen Grammatik beschrieben werden.
Allerdings können auch vermeintliche Nebensätze syntaktisch unabhängig sein und damit den Status einer syntaktischen BasiseinheitBasiseinheit, syntaktische einnehmen:
(3–25) Kohnert gratulierte. Und dann die Benjamin. Daß sie sich ja so freut und ihr weiterhin alles Gute wünscht und daß sie hofft, daß sie auch die kommenden Aufgaben so gut meistert wie bisher, und so weiter. Sie meinte es ernst. (T. Brussig: Wasserfarben [Roman])
Abschließend sei noch einmal darauf verwiesen, dass hier nur regelhaft vorkommende Strukturen einbezogen wurden, nicht aber akzidentielle, also eher zufällige Erscheinungen und Konstruktionen, die auch in der gesprochenen Sprache als Fehler angesehen werden müssen. Zum Beispiel sind Konstruktionsabbrüche bzw. -mischungen – anders als in der interaktiven Situation des Dialogs – im monologischen DiskursDiskurs in der Regel der psychischen Situation des Sprechers geschuldet und hier als gescheiterte Äußerungshandlungen und damit als defektiv anzusehen.
Allerdings können sie natürlich von einem Autor als bewusste Stilmittel eingesetzt werden, wobei dann mit der Defektivität der entsprechenden Äußerungen gespielt wird:
(3–26) Dann die Rede von Schneider. Irgendwas mit Nation war wieder dabei, und daß unsere Perspektive jetzt Konturen annimmt, und daß heute der wichtigste Tag unseres Lebens und all dieses Gewäsch. (T. Brussig: Wasserfarben [Roman])
3.2.4 Kommunikative Gegebenheiten und die syntaktische Form des Textes: Beispiele
Entsprechend einer integrativen Definition von Textsorten (als prototypischen, auf Konventionen der Sprachteilhaber beruhenden sprachlichen Mustern mit charakteristischen funktionalen, situativen und thematischen Merkmalen sowie einer diesen Merkmalen entsprechenden formalen Struktur; siehe auch Kap. 6) sollen im Folgenden die Zusammenhänge zwischen den kommunikativ-pragmatischen Faktoren auf der einen Seite und den prototypischen Formulierungsmustern im Bereich der Grammatik auf der anderen Seite an einer kleineren Textsortenauswahl veranschaulicht werden. Es wird zu zeigen sein, dass der Situationsbezug in die Form eingeht und dort seine Spuren hinterlässt, dass spezifische Formaspekte in bestimmten Fällen nur aus deren situationellem und diskursivem Kontext zu erklären sind, dass bestimmte Formphänomene direkt mit ihrem Verwendungskontext zusammenhängen.
Zur Rolle des Kontextes am Beispiel der TV-Sportreportage
Das folgende Beispiel verdeutlicht eine extreme Reduktion der sprachlichen Form, wie sie in Sportreportagen des Fernsehens durchaus typisch ist.
(3–27) […] und Häßler;
(6.0)
Minotti,
(6.5)
und Freund bisher ganz sicher gegen Zola –
(5.5)
Pagliuca außerhalb des 16-meter-raums –
(8.0)
Casiraghi –
(1.5)
und Babbel –
(2.0)
und Zola;
(–)
und Berti
Die Möglichkeit zu dieser Reduktion ergibt sich aus der Präsenz des MediumsMedium Bild, das als primäre Informationsquelle für den Fernsehzuschauer gelten kann. Der Sprecher beschränkt sich in seiner Reportage weitgehend darauf, mit eingliedrigen Einheiten auf den durch das Fernsehbild jeweils fokussierten Spieler zu referieren. Über diese Einheiten muss nichts ausgesagt werden, sie müssen nicht in Relation zu anderen Sprachzeichen gebracht werden, weil der Fernsehzuschauer sich alle notwendigen Informationen über das Bild erschließen kann.
Auch bei der Analyse des nächsten Beispiels ist die Rolle des Fernsehbildes zu bedenken:
(3–28) Stefan Kuntz;
(1.5)
hätten wir ihm doch alle gegönnt (–) kurz vor’m abschied (–) in die Türkei
Das Bild zeigt in Großaufnahme den Spieler Stefan Kuntz, worauf der Reporter mit einer eingliedrigen Einheit zu dessen Identifizierung reagiert. Der nachfolgende Satz bezieht sich auf eine unmittelbar vorausgegangene Spielsituation, in der Stefan Kuntz eine große Torchance ausgelassen, also kein Tor erzielt hat. Diese Aktion ist Gegenstand (Thema) der Satzäußerung. Der Sprecher kann aber darauf verzichten, das Thema zu benennen, denn der Fernsehzuschauer ist über das Bild hinreichend gesteuert. Der Reporter lässt also das Vorfeld, das für ein entsprechendes thematisches Element prädestiniert wäre, unbesetzt und beginnt mit dem Finitum hätten.
Aus solcherart Beobachtungen ergibt sich folgende für eine Textgrammatik sehr grundsätzliche Konsequenz (vgl. Jürgens 1999: 208ff.): Es ist davon auszugehen, dass Sprachzeichen nur in dem Maße durch formale Mittel explizit aufeinander bezogen werden, wie es für die Kommunikation erforderlich ist. Zentrale Forderung an eine pragmatisch orientierte Textgrammatik muss es daher sein, Fragen des (sprachlichen und außersprachlichen) Kontextes ganz maßgeblich zu berücksichtigen, denn Kontextgegebenheit ist eine entscheidende Voraussetzung für die Reduktion der sprachlichen Form. „Generell gilt, daß je mehr Kontextwissen vorausgesetzt ist, desto weniger an Strukturierung notwendig ist.“ (Busler/Schlobinski 1997: 103)
Kognitive Grundlagen der Textproduktion und -rezeption am Beispiel der Hörfunk-Sportreportage
Grundsätzlich anders als im MediumMedium Fernsehen stellen sich die kommunikativen Bedingungen in der Hörfunkreportage dar. In dieser Textsorte ist der Reportagetext für den Hörer die einzige Informationsquelle. Dennoch kommt es auch hier zu einer z. T. extremen Reduktion der sprachlichen Form (vgl. Jürgens 1999: 216ff.):
(3–29) Italien (.) über links;
(.)
ball am strafraumrand;
(.)
weggeköpft von Babbel (.) der zum fünften mal hintereinander (.) berufen wurde (.) der lange vorstopper (.) vom FC Bayern München;