erfüllt, hätte dies zu einem Ende der Kunst geführt.9 Bürger betrachtet die historische Avantgarde jedoch aus drei Gründen als gescheitert an: erstens habe die Kunst nicht in Lebenspraxis überführt werden können, zweitens sei die Avantgarde von der Institution Kunst vereinnahmt, musealisiert und konsekriert worden, drittens könne man angesichts der heutigen Ästhetisierung der Lebenswelt allenfalls von einer falschen Aufhebung der Kunst im Alltag sprechen.10 Jedoch stellt Bürger die Frage, „ob eine Aufhebung des Autonomiestatus [der Kunst] überhaupt wünschenswert sein kann“11, da die Kunst nur in ihrer Distanz zur Lebenspraxis überhaupt kritisch sein könne. Trotz der Immunität der Kunstwelt gegenüber Angriffen der Avantgarde spricht er den avantgardistischen Bewegungen eine wichtige Errungenschaft zu: die Avantgarde habe die Institution Kunst als Institution überhaupt erst erkennbar gemacht und die Kunst von innen heraus verändert, indem sie das organische Kunstwerk zerstört und für die Gleichberechtigung aller künstlerischen Materialien für die Kunst gesorgt habe. Für Bürger geht das Scheitern der Avantgarde Hand in Hand mit ihrem ästhetischen Erfolg:
In retreating to its core domain of aesthetic autonomy, the art institution demonstrates a resistance to the attack of the avant-gardes, yet also adopts avant-garde practices. Seen in this light, the failure of the avant-garde’s aspirations to alter social reality and its internal aesthetic success (the artistic legitimation of avant-garde practices) are two sides of the same coin.12
Im Gegensatz zu Poggioli, für den die Avantgarde eine radikale Ausprägung der Moderne ist, rückt Bürger von einem linearen Avantgardeverständnis ab und konzipiert die Avantgarde als Bruch mit der Moderne. Damit nimmt er eine klare Unterscheidung zwischen Moderne und Avantgarde vor und wertet die Avantgarde als ästhetisch eigenständiges Phänomen mit eigenen Bedingungen, Intentionen und Merkmalen auf. Die Denkfigur der Avantgarde als Bruch ist vor allem in der europäischen Avantgardeforschung verbreitet. So stellte beispielsweise Henri Béhar der Idee einer linearen und progressiven Entwicklung von Kunst und Literatur ein drei- oder sogar vierdimensionales Modell gegenüber, in dem die Avantgarde „trous noirs“ oder „littéruptures“ entspricht, die mit dem Bisherigen brechen und „des moments de désordre absolu, totalement inclassables, difficilement repérables“13 darstellen.
2.5.4 Avantgarde als Rand eines Kreises
Abb. 4
Aufgrund der Rekuperation, Konsekrierung, Domestizierung und Musealisierung der Avantgarde wurde spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Tod proklamiert. Paul Mann hat in The Theory-Death of the Avant-Garde (1991) den vermeintlichen Widerspruch aufgezeigt zwischen den zahlreichen Für-Tot-Erklärungen der Avantgarde und gleichzeitig einer reichhaltigen Produktion an avantgardistischer Kunst und Avantgardekritik. Ihm zufolge bedeutet der Tod der Avantgarde nicht ihr Ende, sondern koinzidiert vielmehr mit ihrer produktivsten Phase:
The death of the avant-garde is not its termination but its most productive, voluble, self-conscious, and lucrative stage. […] The death of the avant-garde is its theory and the theory of the avant-garde is its death.1
Anstatt der Rekuperation zum Opfer zu fallen, sei die Avantgarde selbst schon ein Prozess ständiger Rekuperation, Assimilation und Absorption innerhalb einer „discursive economy“2, ein Prozess also, der die eigene Widersprüchlichkeit schon mitdenke. Der einzige Ausweg für eine echte Negation sei das Positionieren außerhalb dieses Diskurses, was jedoch ein unmögliches Vorhaben sei. Die Avantgarde wollte sich außerhalb des Systems positionieren, habe aber verkannt, dass es gar kein Außen gibt. Als „the outside of the inside“3 führt die Avantgarde eine liminale Existenz am Rande des Systems, von dem es im Laufe der Zeit vereinnahmt wird. Mit seiner Innen-Außen-Konzeption bringt Mann eine räumliche Komponente ins Spiel, die anhand eines Kreises veranschaulicht werden kann. Die Avantgarde befindet sich am äußeren Rand des Kreises. Eine Positionierung außerhalb des Kreises ist unmöglich, der Kreis kann sich aber ausdehnen und sich das, was einst an seinen Rändern lag, einverleiben.
Ein Jahr später schlägt der Kulturtheoretiker Boris Groys (1992) eine ähnliche Konzeption vor. Für ihn gliedert sich die Welt einerseits in das kulturelle Gedächtnis, das in Bibliotheken, Museen und Archiven aufbewahrt wird, andererseits in den profanen Raum, der aus allem besteht, was wertlos, uninteressant und irrelevant erscheint. Die Grenze zwischen profanem und kulturellem Raum könne nicht ausgelöscht, aber doch verschoben werden. Zwischen dem profanen und dem kulturellen Gegenstand herrsche keine Wesens-, sondern eine Wertdifferenz. Innovation geschehe dann, wenn eine „Umwertung der Werte“4 stattfinde, d.h. wenn das Profane in einem Akt der Valorisierung in den kulturellen Raum oder das Kulturelle in einem Akt der Profanisierung in den profanen Raum übertrete. Mit seiner Konzeption der Innovation als Umwertung der Werte nimmt Groys, ähnlich wie Mann, Abstand von der gängigen Vorstellung des Neuen als etwas, das alle Grenzen überschreitet und noch nie zuvor dagewesen ist. Vielmehr weise das Neue sowohl Merkmale des kulturellen Archivs wie auch des Profanen auf. Groys erteilt damit auch eine Absage an den postmodernen Pluralismus, der eine kulturelle Hierarchie negiert. Ihm zufolge bleiben das Kulturelle und das Profane als zwei voneinander getrennte Bereiche bestehen, und auch wenn die Grenzen zwischen beiden nicht fix sind, kann es nie zu einer Aufhebung kommen. In ihrem Freiheitsdrang habe die Avantgarde das kulturelle Archiv auslöschen wollen, habe letztendlich aber nur das Profane aufgewertet und das kulturelle Archiv erweitert.
2.5.5 Avantgarde als Teil eines Balletts
Abb. 5
Pierre Bourdieu hat in Les règles de l’art (1992) das Feld der kulturellen Produktion definiert als eine vom sozialen Feld unabhängige Sphäre. Es bestehe aus der großen Kunstproduktion für die Massen sowie aus der Avantgarde, bei der Bourdieu wiederum zwischen der aktuellen und der konsekrierten Avantgarde unterscheidet. Der Grad der Konsekrierung sei eine Frage der Zeit und trenne ganze künstlerische Generationen voneinander.1 Die unterschiedlichen Elemente, die das Feld der kulturellen Produktion ausmachten, verhielten sich zueinander wie in einem
ballet bien réglé où les individus et les groupes dessinent leurs figures, toujours en s’opposant les uns aux autres, tantôt se faisant front, tantôt marchant du même pas, puis se tournant le dos, dans des séparations souvent éclatantes.2
2.5.6 Avantgarde als Pfeil aus der Zukunft
Abb. 6
Mit dem „Projekt Avantgarde“ (1997) stellen Wolfgang Asholt und Walter Fähnders nicht nur, wie Bürger, die Linearität der Avantgarde mit der Vergangenheit, sondern auch ihre Linearität mit der Zukunft in Frage. Ihre Fragmenthaftigkeit verleihe der Avantgarde Projektcharakter. Dabei sei das Fragment nicht etwa Ausdruck einer verloren gegangenen Totalität, sondern ein Vorgriff auf eine zukünftige Totalität. Als eine Art Fragment aus der Zukunft finde das Projekt damit bereits in der Gegenwart eine imaginierte Vollendung, weil es seine künftige Vollendung bereits im Hier und Jetzt antizipiere. Somit sei das „Projekt Avantgarde“ – im Gegensatz zum Habermasschen Moderne-Projekt1, welches auf eine Vollendung in der Zukunft ausgerichtet ist – nicht mehr auf eine spätere Realisierung angewiesen, ihm komme im Gegenteil „als Gesetztes, als Imaginiertes bereits Realität, wenn nicht gar 'Vollendung', zu.“2 Diese „Gegenwartsorientierung“3 ist ein wichtiges Merkmal der Avantgarde, deren Projekt als „Skizze des Zukünftigen“4 im Hier und Jetzt bereits seine Erfüllung findet.
Dank dieser nicht-linearen Sicht wird die Avantgarde vom Vorwurf der Nicht-Einlösung ihres Programms entbunden, und es ist auch überhaupt nicht mehr entscheidend, ob sie ihre Intentionen tatsächlich realisiert hat. Die Avantgarde habe ihrem Projekt demnach nicht einfach „'naiv' gegenübergestanden“5, sie habe sich nicht blauäugig von der Institution Kunst rekuperieren lassen, sondern ihr Scheitern bereits mitgedacht. Dieses Mitdenken der eigenen Aporien bezeichnet Asholt als „avantgardistische