Lee Know

Die Mito-Medizin


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Prozess, doch er zieht sich länger hin.

      Die Faustregel lautet: Je größer das Tier, desto langsamer die Stoffwechselrate und desto länger die Lebensdauer. Eine Ausnahme bilden laut Lane die Vögel, die einen schnelleren Stoffwechsel, aber auch ein langes Leben mit einem geringen Risiko für altersbedingte degenerative Erkrankungen haben. Ihre Mitochondrien geben weit weniger freie Radikale ab, und dieser Umstand hat unmittelbaren Einfluss auf die Alterung, das Krankheitsrisiko und den Tod selbst (worauf ich noch näher eingehen werde).

      In einem Kurvendiagramm, das die Lebensdauer im Vergleich zum durchschnittlichen Ruhestoffwechsel darstellt, würde ein Vogel ein Säugetier mit vergleichbarer Stoffwechselrate mindestens um das Drei- bis Vierfache schlagen. Lane vergleicht in seinem Buch eine Taube mit einer Ratte. Beide haben eine ähnliche Ruhestoffwechselrate, aber die Taube kann 35 Jahre alt werden, die Ratte hingegen nur drei bis vier Jahre. Dazu muss eine Taube jedoch nicht etwa ihr Lebenstempo herunterschrauben – ihr Leben verläuft genauso rasant wie das einer Ratte. Lane zufolge leben auch wir Menschen länger, als wir „sollten“. Offenbar werden wir drei- bis viermal älter als andere Säugetiere mit vergleichbarer Ruhestoffwechselrate.

      Wichtig ist auch, das Altern nicht mit degenerativen Erkrankungen gleichzusetzen. Zwar entwickeln die meisten warmblütigen Säugetiere im Alter immer mehr degenerative Erkrankungen – aber eben nicht alle. Das ist ein Lichtblick, denn so können wir uns ein langes Leben vorstellen, das kaum oder gar keine Abbauerscheinungen mit sich bringt. Ein langes, gesundes Leben. Wünscht sich das nicht jeder?

      Falls und wenn ein Säugetier derartige Erkrankungen entwickelt, so geschieht dies nicht zu einem feststehenden Zeitpunkt, sondern in Relation zu seiner Lebensdauer, und die umfasst für jede Spezies einen bestimmten Zeitraum. Ratten werden im Labor gern verwendet, um menschliche Krankheiten zu erforschen, weil sie ähnliche Alterskrankheiten entwickeln wie wir – allerdings schon nach zwei bis drei Jahren, nicht erst nach Jahrzehnten. Ratten können Diabetes und Adipositas bekommen. Sie können Krebs, Herzschwäche, Blindheit und Demenz entwickeln. An diesen Krankheiten leiden auch viele Vögel, doch bei ihnen treten sie erst nach einigen Jahrzehnten auf, weshalb sie als Versuchstiere in Bezug auf menschliche Erkrankungen ungeeignet sind.

      In meinem ersten Jahr an der medizinischen Hochschule – lange vor der Arbeit an diesem Buch – schrieb ich zu diesem Thema ein Essay. Es ging um eine Theorie, die ich mir damals ausgedacht hatte, ohne sie belegen zu können, wohlgemerkt. Ich hielt Tod und altersabhängige degenerative Erkrankungen nicht für „normal“, sondern war der Ansicht, dass der Mensch eigentlich dazu bestimmt sei, bei bester Gesundheit endlos lange zu leben. Die These lautete, dass Tod und Krankheit eine Erfindung der Evolution seien, um auf Kosten des Individuums das Überleben der menschlichen Spezies zu sichern. Je schneller wir altern und sterben, umso schneller müssen wir uns vermehren. Wenn wir nicht älter werden oder sterben würden, gäbe es keinen Grund, sich zu vermehren. Ohne Alterung oder Tod stünde das Überleben der Menschheit auf dem Spiel, denn wir könnten uns schlechter an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Und je länger eine Spezies lebt, desto länger wird der Abstand zwischen den Generationen. Je mehr „Generationen“ eine Spezies in einem gegebenen Zeitraum hervorbringt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine hilfreiche Kombination der bereitstehenden Gene (von Mutter und Vater) entsteht und so eine zufällige, positive Mutation in den Genpool einfließt. Und diese verbesserte Bandbreite der Gene erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass einige aus der Population jedwede Umweltveränderung überleben. In meiner Theorie diente das Altern als hilfreiche „Mutation“ daher ursprünglich dazu, uns den Anreiz zu geben, uns alle 15 bis 30 Jahre zu reproduzieren. Ich weiß, dass diese Theorie zahlreiche Lücken aufweist (wohl deshalb habe ich die damalige Prüfung nur gerade so bestanden). Doch wer hätte gedacht, dass ich Jahre später in diesem Buch ähnlichen Gedanken nachgehe. Diesmal jedoch (ich lerne aus meinen Fehlern!) stütze ich mich auf signifikante wissenschaftliche Belege aus mehreren Jahrzehnten und diversen Forschungsgebieten.

      Zur Frage, warum wir altern, gibt es diverse Theorien. Gemäß der endokrinen Theorie beruht die Alterung beispielsweise auf dem Rückgang bestimmter Hormone wie Testosteron oder Östrogen. Aber ist das wirklich die Ursache oder vielmehr eine Folge? Warum geht der Spiegel dieser Hormone überhaupt zurück?

      Auch Abnutzung wird diskutiert, was voraussetzt, dass Zellen im Laufe der Jahre von Natur aus degenerieren. Das klingt nachvollziehbar und ist daher eine beliebte Theorie. Aber warum degenerieren die Zellen? Warum verläuft die Abnutzung bei unterschiedlichen Spezies so unterschiedlich schnell?

      Und was ist mit der Telomer-Theorie? Die Telomere – die „Endkappen“ der Chromosomen, die im Laufe des Lebens allmählich kürzer werden – verhalten sich von Art zu Art derart unterschiedlich (sogar innerhalb der verschiedenen Gewebearten des Menschen), dass sie unmöglich der zentrale Grund für die Alterung sein können. Außerdem ist diese Theorie bisher viel zu lückenhaft.

      Wenn man immer wieder nach dem Warum fragt, zeigt sich, dass die meisten Theorien den Kausalitätstest nicht bestehen oder genau das postulieren, was sie belegen wollen. Eine gute Theorie muss eine Vielzahl offensichtlicher Widersprüche, Paradoxe und Logikschwächen überwinden. Sie muss auch widersprüchliche Beobachtungen bei verschiedenen Spezies erklären. Womit wir bei der Freie-Radikale-Theorie wären, der zufolge Alterung und eine festgelegte Lebensspanne auf Schäden durch freie Radikale zurückgehen. Tatsächlich erklärt diese Theorie viele Diskrepanzen und sogar die scheinbar paradoxe Beobachtung, dass Vögel trotz ihres schnellen Stoffwechsels erheblich älter werden als vergleichbar große Säugetiere. Die Theorie erkennt an, dass freie Radikale einerseits aus der mitochondrialen Elektronentransportkette herrühren, andererseits aber auch von außen in den Körper gelangen.

      Wie alle Theorien wurde auch die Freie-Radikale-Theorie wiederholt infrage gestellt. Mit jeder neuen Herausforderung kristallisierte sich eine klarere und stärkere Form heraus. Eines hingegen erklärt diese Theorie nicht, und das ist das Sport-Paradoxon: Sportler scheinen länger und gesünder zu leben, obwohl sie viel mehr Sauerstoff verbrauchen (und viel mehr freie Radikale produzieren) als Menschen mit sitzender Lebensweise. Damit hält auch diese Theorie letztlich nicht stand. Wenn Alterung auf das Austreten von freien Radikalen aus der Elektronentransportkette zurückgeht, müsste die Stärkung der Verteidigung über Antioxidantien solche Schäden von vorneherein vermeiden und das Leben verlängern können. Säugetiere mit hoher Lebenserwartung müssten demnach anlagebedingt ein besseres Antioxidationssystem haben. Das wiederum würde bedeuten, dass Vögel hohe Antioxidantienspiegel haben müssten und Ratten sehr niedrige. Wenn wir uns also ein längeres, gesünderes Leben wünschen, müssten wir lediglich für mehr schützende Antioxidantien sorgen. Entsprechende Studien haben diese Theorie allerdings widerlegt. Bei Vögeln ist der Spiegel der Antioxidantien sehr niedrig (aber sie werden alt), bei Ratten sehr hoch (aber ihr Leben ist sehr kurz). Hinzu kommt, dass Nahrungsergänzungsmittel mit Antioxidantien das Leben zumindest im Labor nicht verlängern konnten. Seit mehreren Jahrzehnten verabreichen Forscher den verschiedensten, im Abbau begriffenen biologischen Systemen erfolglos diverse Antioxidantien. Bestenfalls konnten sie damit das Risiko für bestimmte Erkrankungen mindern oder gar die Symptome anderer Erkrankungen verbessern. Doch die maximale Lebenserwartung ließ sich nie verlängern. Man könnte natürlich einwenden, dass vielleicht die falsche Dosierung, die falsche Formel, die falsche Darreichungsform oder der falsche Zeitpunkt gewählt wurde. Fakt ist jedoch, dass Antioxidantien nicht die Wirkung entfalten, die wir ihnen bisher zugeschrieben hatten. Eine Reihe unabhängiger Studien argumentieren, dass umgekehrt eine negative Korrelation zwischen dem Spiegel an endogenen Antioxidantien und der maximalen Lebenserwartung besteht. Einfach ausgedrückt ist die Lebenserwartung umso kürzer, je höher die Antioxidantienkonzentration wird (und diverse Studien belegen zudem, dass oxidativer Stress tatsächlich das Leben verlängern kann).

      Zum Glück haben die Hersteller dies eingesehen, weshalb wir mittlerweile nicht mehr so viel über Antioxidantien hören wie früher. Bis vor wenigen Jahren galt ORAC (oxygen radical absorption capacity, ein Maß für die Fähigkeit einer Substanz, im Labor antioxidativ zu wirken) als die Zauberformel schlechthin. Findige Marketingabteilungen priesen diesen Wert als Allheilmittel an. Dummerweise eignen sich Reagenzgläser bekanntlich nicht, um herauszufinden, wie gewisse Substanzen in einem biologischen System wirken. Neuere Arbeiten belegen, dass viele Antioxidantien