Xiaolong Zhou

Religionsbegründung ohne Erkenntnis Gottes


Скачать книгу

Kants Erklärung dafür lautet: „das Ideal ist ihr also das Urbild (Prototypon) aller Dinge, welche insgesamt als mangelhafte Copeien (ectypa) den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen.“24 Dieser von Platon entlehnte Begriff drückt die Beziehung zwischen allen Dingen und Gott besser aus: alle Dinge haben an der Realität des entis realissimi teil, und die Materie der Möglichkeit aller Dinge leitet sich vom transzendentalen Ideal ab, gewinnt ihre Realität davon und wird als Folge daraus betrachtet.

      (3) Oben haben wir gesehen, dass Gott als das ens realissmum das Substratum der Materie der Welt ist. Zudem drückt Kant die Meinung aus, dass Gott auch als Substratum der Form der Welt betrachtet werden kann, jedoch aus einer anderen Perspektive: Gott ist die höchste Intelligenz. Am Anfang von Abschnitt 1.1 haben wir schon einen Absatz aus der KrV wie folgt zitiert: „Ist endlich drittens die Frage, ob wir nicht wenigstens dieses von der Welt unterschiedene Wesen nach einer Analogie mit den Gegenständen der Erfahrung denken dürfen: so ist die Antwort: allerdings, aber nur als Gegenstand in der Idee und nicht in der Realität, nämlich nur so fern er ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist, welche sich die Vernunft zum regulativen Princip ihrer Naturforschung machen muß.“25 In dieser Passage sagt Kant deutlich, dass die Idee Gottes „ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist“. Die systematische Einheit der Welt ist gerade die Form der Welt.

      An dieser Stelle ist noch zu erwähnen, dass es für Kant zwei verschiedene Formen der Dinge gibt: die Form des Individuums und die Form als Beziehung zwischen Individuen. Wir haben die folgende Passage zitiert: „auch wurde in Ansehung der Dinge überhaupt unbegrenzte Realität als die Materie aller Möglichkeit, Einschränkung derselben aber (Negation) als diejenige Form angesehen.“26 Diese Form ist Einschränkung der umgrenzten Realität, oder ist die Form des Individuums.27 Doch was hier mit der Form hinsichtlich der weltlichen Einheit gemeint ist, das ist nicht die Form des Individuums. Was im Zentrum steht, ist die Form zwischen Individuen, nämlich die systematische Einheit der Welt, die die Beziehung zwischen Individuen bezeichnet. Um dies besser zu verstehen, lohnt sich ein erneuter Blick in die nova dilucidatio. Neben dem ontotheologischen Beweis in PROP. VII bietet Kant noch einen anderen in PROP. XIII an, in dem das Principium coexsistentiae diskutiert wird: „Substantiae finitae per solam ipsarum exsistentiam nullis se relationibus respiciunt, nulloque plane commercio continentur, nisi quatenus a communi exsistentiae suae principio, divino nempe intellectu, mutuis respectibus conformatae sustinentur.“28 Folglich nimmt Kant an, dass nur durch die göttliche Intelligenz (divino intellectu) die wechselseitigen Beziehungen zwischen den endlichen Substanzen entstehen. Diese Tatsache führt Kant zu einem Plädoyer für das Dasein Gottes: „Cum ergo, quatenus substantiarum singulae independentem ab aliis habent exsistentiam, nexui earum mutuo locus non sit, in finita vero utique non cadat, substantiarum aliarum causas esse, nihilo tamen minus omnia in universo mutuo nexu colligata reperiantur, relationem hanc a communione causae, nempe Deo, exsistentium generali principio, pendere confitendum est.“29 Denn die Gemeinschaft aller Substanzen setzt voraus, dass Gott als die höchste Intelligenz existiert. Doch in der KrV bestimmt Kant die Beziehung zwischen den Substanzen als systematische Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit, die Gott als die höchste Intelligenz (wenigstens als die Idee der höchsten Intelligenz) voraussetzt, nämlich dass Gott als die höchste Intelligenz auch das Substratum der systematischen Einheit der Welt ist.

      In Abschnitt 1.4 haben wir versucht, die transzendentalen und aposteriorischen Methoden in eine Einheit zu bringen. Anhand der vorkritischen Schriften und der kantischen Naturforschung haben wir aufgezeigt, dass die Ideen von Gott als das ens realissimum und von Gott als höchste Intelligenz miteinander verbunden sind. Beide bezeichnen Gott als Substratum, doch Gott als das ens realissimum ist transzendentales Substratum im Sinn der Materie der Welt, und Gott als die höchste Intelligenz funktioniert als das Substratum der Form, nämlich der systematischen Einheit der Welt. Deswegen ist in der kantischen Philosophie Gott das Substratum für die Materie und für die Form der Welt.

      2 Der Mangel an Gewissheit der Existenz Gottes

      Im 1 Kapitel haben wir bereits verdeutlicht, dass es für Kant zwei Möglichkeiten gibt, Gott zu denken: durch die apriorische und transzendentale Methode wird Gott als ens realissimum verstanden, durch die aposteriorische und analogische Methode als die höchste Intelligenz. In Hinsicht auf die Beziehung zwischen Gott und der Welt ist Gott das Substratum aller Dinge der Welt. Die erste Methode betrachtet Gott als die Materie der Möglichkeit aller Dinge. Die letztere betrachtet Gott als die Grundlage der Verbindung aller Dinge, oder der systematischen Einheit (d.h. der Form).

      Wir glauben, dass sowohl Kants Widerlegung der drei traditionellen Gottesbeweise als auch seine positive Betrachtung des Gottesideals als regulatives Prinzip auf die oben geklärte Grundlage zurückgeführt und dadurch verstanden werden müssen. So besteht der hauptsächliche Einwand gegen den ontologischen Beweis darin, dass er die Existenz Gottes aus dem Begriff des entis realissimi herleitet. Dies ist für Kant unmöglich. Allerdings lehnt er den Begriff des entis realissimi selbst nicht ab. Obwohl Kant exemplarisch den physikotheologischen Beweis kritisiert, verbindet er einige der Kerngedanken der Physikotheologie mit dem regulativen Prinzip. Mit anderen Worten, Kant bestreitet nicht die durch die drei traditionellen Beweise anerkannte Idee Gottes, sondern er bestreitet lediglich, dass die Existenz Gottes aus der Gottesidee unmittelbar hergeleitet werden könne. Allerdings können die Eigenschaften Gottes durch die drei traditionellen Beweise bestimmt werden. Auf dieselbe Weise hat Kant postuliert, dass Gott das ens realissimum und die höchste Intelligenz ist, doch gleichzeitig plädiert er dafür, dass ein dadurch erkannter Gott nicht mit Sicherheit als existierend bewiesen werden könne. Kant wird nicht müde zu betonen, dass ein solcher Gott nur eine Idee ist, da er an sich unbekannt ist. Deshalb wird in diesem Kapitel die Frage nach der Gewissheit der Existenz Gottes diskutiert.

      In diesem Kapitel wird gezeigt, dass Kant die Gewissheit der Existenz des allerrealsten Wesens (des entis realissimi) leugnet, obwohl er in seiner vorkritischen Periode derartige Behauptungen aufgestellt hat (2.1). Danach wird Gott als die höchste Intelligenz, die durch die aposteriorische und empirische Analogie erkannt wird, analysiert. Es wird auch festgestellt, dass die Gewissheit der Existenz dieser höchsten Intelligenz nicht garantiert ist (2.2). Anschließend kommen wir zur Erkenntnis, dass diese beiden Methoden, Gott zu denken, Kant zufolge die Existenz Gottes nicht erweisen können. Gleichzeitig gibt es keinen Grund, die Existenz Gottes zu leugnen. Daher ist für Kant die endgültige Gewissheit der Existenz Gottes fragwürdig (2.3). Diese Schlussfolgerung gilt als Grundlage für das 3. Kapitel, in dem deutlich wird, dass Kant die Gewissheit der Existenz Gottes in einer freien Ordnung (durch Moralität) wieder festgestellt hat.

      2.1 Das „ens realissimum“ ist subjektiv notwendig

      In der Erörterung von Kapitel 1 haben wir gesehen, dass Kant der Existenz des allerrealsten Wesens immer misstrauisch gegenübersteht. Kant übernimmt das durchgängige Prinzip von Baumgarten, aber bei Baumgarten hat dieses Prinzip eine doppelte Funktion: als Prinzip von Individualität und von Existenz.1 Kant wendet das durchgängige Prinzip nur als das Prinzip der Individualität an. Nachdem er im 2. Abschnitt des Theologie-​Hauptstückes die Tatsache festgehalten hat, dass das ens realissimum der Gegenstand der transzendentalen Theologie ist, kritisiert er sofort die Annahme der Existenz dieses Wesens aus der kritisch-​philosophischen Perspektive. Diese Kritik zielt auf den gesamten Rahmen seiner Kritik am ontologischen Beweis, obwohl sie noch nicht aus dem metaphysischen Prinzip „Sein ist kein reales Prädikat“ abgeleitet wird.

      In diesem Abschnitt werden wir zunächst in 2.1.1 Kants oben genannte Kritik veranschaulichen und darauf hinweisen, wie er über das transzendentale Ideal Gottes aus der Perspektive der kritischen Philosophie diskutiert. Da der Begriff des entis realissimi eng mit dem vorkritischen Beweisgrund verbunden ist, wird die Beziehung zwischen dem Beweisgrund und dem 2. Abschnitt des Theologie-​Hauptstückes in 2.1.2 untersucht und analysiert. Schließlich werden wir in 2.1.3 das Konzept der Notwendigkeit verdeutlichen, um das Problem der Existenz des entis realissimi besser zu verstehen.

      2.1.1 Eine Rekonstruktion