Plato, durch die verschiedenen Altersstufen hindurch in verschiedenem Maß, gepflegt werden. Die geistige Ausbildung geschieht zunächst, dem frühen Kindesalter gemäß, durch Erzählungen aus der Märchen- und Sagenwelt, aus denen jedoch alle unsittlichen, der Götter oder Helden unwürdigen Züge, auch zum Beispiel Schilderungen angeblicher Schrecknisse in der Unterwelt (beim Christentum Hölle) zu verbannen sind. Dann folgt Lese- und Schreibunterricht. Der begeisterungsfähigen Jugend von vierzehn bis sechzehn Jahren werden vor allem Gedichte, namentlich lyrische (Lieder), und die damit verwandte Musik, unter Ausschaltung alles Üppigen und Weichlichen, Leidenschaftlichen und Zweideutigen, als seelische Kost geboten; dem angehenden Jünglingsalter vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre die ernsteren mathematischen Wissenschaften, einschließlich Physik und Astronomie. Nur die auf das wahrhaft Gute und Schöne gerichtete Kunst soll zugelassen sein, damit eine ernste, sittliche Gesinnung, eine reine und hohe Gottesvorstellung, eine mutvolle Verachtung des Todes und der vergänglichen Güter des Lebens in den jungen Seelen erzeugt wird. Auch das weibliche Geschlecht soll an dieser Erziehung teilnehmen. Plato ist einer der frühesten Vertreter der Frauenemanzipation (das heißt Befreiung des weiblichen Geschlechts aus seiner Sklaverei). Er meint, daß die beiden Geschlechter nur im Grad, nicht in der Art ihrer Kräfte verschieden seien. Deshalb sollen die Mädchen und Frauen auch an den gymnastischen Übungen, gegebenenfalls sogar am Kriege teilnehmen; nur sollen ihnen dabei die leichteren Beschäftigungen zugewiesen werden.
Nach Beendigung des Kursus in Musik und Mathematik erhalten sodann die Achtzehnjährigen, ähnlich wie bis vor kurzem bei uns, eine zweijährige militärische Ausbildung. Darauf tritt eine erste Auslese ein. Die wissenschaftlich weniger Begabten verbleiben im Stande der »Hüter«; die übrigen betreiben fortan die Wissenschaften eingehender und in mehr systematischer Form, etwa wie auf unseren Universitäten. Danach erfolgt eine zweite Auslese: die minder Vorzüglichen gehen nun zu allerlei praktischen Staatsämtern über; die Begabtesten aber widmen sich noch fünf weitere Jahre der Erkenntnis des Seienden (Ideenlehre), um sodann ihrerseits höhere Regierungsämter zu übernehmen. Falls sie sich in diesen fünfzehn Jahren bewähren, sind sie mit fünfzig Jahren reif, unter die Zahl der »Herrschenden« oder Philosophen aufgenommen zu werden. Ihr Beruf ist von jetzt an die Gesetzgebung und die Überwachung von deren Ausführung. Die von ihrem jeweiligen Amte, zu dem das Los sie beruft, freie Zeit widmen sie weiterer philosophischer Vertiefung.
Damit nun die beiden regierenden Stände, die Philosophen und die Hüter, durch keine persönlichen Interessen an der Hingabe für das Ganze gehindert werden, soll keiner von ihnen eigenes Vermögen besitzen: weder Gold und Silber, noch eine eigene Wohnung, noch Vorratskammern, in die nicht jeder gehen könnte. Den nötigen Lebensunterhalt empfangen sie in bestimmter Ordnung von den Bürgern der erwerbenden Stände in der Weise, daß sie keinerlei Mangel leiden, indes auch nichts für das nächste Jahr übrig behalten. Sie wohnen und speisen gemeinschaftlich. Ebenso sind ihnen auch die Frauen und Kinder gemeinsam, so daß weder ein Vater das eigene Kind kennt, noch das Kind den Vater. Alle bilden eben eine große Familie; teilen soweit wie möglich Freuden und Schmerzen miteinander. Erst ein solcher Zustand, in dem niemand mehr etwas sein eigen nennt als seinen Leib, wird die Befreiung von aller Zwietracht bringen sowie von allen Rechtshändeln, die jetzt um den Besitz irdischer Güter unter den Menschen entbrennen.
Wie man sieht, ein sehr weitgehender Kommunismus, der allerdings nur auf die Angehörigen der beiden oberen Stände sich bezieht, also nur einen Halbkommunismus darstellt. Von einer Ausdehnung auf das erwerbende Volk hielt Plato wohl zunächst, wie schon angedeutet, sein aristokratisches Mißtrauen gegen die »von Natur unphilosophische« Masse ab. Dann aber waren ja auch zu seiner Zeit die wirtschaftlichen Vorbedingungen (Großbetrieb usw.) für einen Voll- und Produktionssozialismus bei weitem nach nicht vorhanden. Und die Herbeiführung des neuen Sozialstaates durch völlige Umgestaltung des bisherigen kann er sich eben nur als von oben herunter geleitet vorstellen. Zuerst hoffte er wohl, daß die in seiner »Akademie« in seinem Sinne erzogenen Jünger das neue Geschlecht mit dem neuen Geiste erfüllen sollten; denn Staatsverfassungen wachsen nicht auf den Bäumen, sondern wurzeln in der Sinnesart der Bürger. In diesem Sinne war wohl auch sein bekannter Satz gemeint: »Nicht eher wird eine Erlösung von den Übeln in den Staaten, ja beim Menschengeschlecht überhaupt eintreten, ehe die Philosophen zur Regierung kommen oder die jetzigen Könige und Machthaber gründlich philosophieren.« Und er hat auch mehrmals – bei dem älteren wie bei dem jüngeren Dionys – einen praktischen Versuch gemacht. Allein seine Hoffnungen, einen ähnlichen politischen Einfluß wie einst der Bund der Pythagoreer in Griechenland (siehe Seite 18) zu gewinnen, schlugen fehl. Dennoch versiegte sein hochgespannter Idealismus nicht. Gegen Ende seines Lebens entwarf er in einem neuen Buche, den »Gesetzen«, die Grundzüge eines zweitbesten Staates, der den bestehenden Verhältnissen besser angepaßt, mehr Aussicht auf Verwirklichung böte.
Er denkt ihn sich als eine Art Agrarkolonie im Innern der großen Insel Kreta, die, nebenbei bemerkt, ebenso wie das alte Sparta in vergangener Zeit allerlei sozialistische Einrichtungen besessen hatte und so einen gewissen Anknüpfungspunkt bot. Das ganze Staatsgebiet ist, ähnlich wie im Sparta des sagenhaften Gesetzgebers Lykurg, in lauter gleiche »Landlose« (5040 an Zahl) für alle Vollbürger aufgeteilt. An die Stelle völliger Aufhebung der Familie für die beiden oberen Stände ist eine sorgfältige Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens aller, an die Stelle der »Ideen«erkenntnis eine mathematisch-musische (siehe oben) Ausbildung nebst einer geläuterten Staatsreligion getreten, an Stelle der »Philosophen« regiert eine Vereinigung der einsichtigsten und bewährtesten Bürger nach geschriebenen, aber fortbildbaren Gesetzen. Mit dieser Abschwächung des Staatsideals der »Republik« sind jedoch andererseits wesentliche Fortschritte (in unserem Sinne) verbunden. Die starre Trennung der Stände ist gemildert, die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten beinahe geschlossen; der Wert der wirtschaftlichen Arbeit wird stärker gewürdigt, der Volksbildung aller Klassen, nicht zu vergessen der weiblichen Jugend, größere Aufmerksamkeit geschenkt. Der bedeutsamste Fortschritt aber ist der, daß im Gegensatz zum Halbkommunismus der »Republik« der Vollsozialismus, das heißt die volle Wirtschaftsgemeinschaft für sämtliche Staatsbürger – zu denen allerdings die unfreien Landarbeiter nicht gehören – wenigstens grundsätzlich ins Auge gefaßt wird. Jeder soll sein Ackerlos, ja »sich selbst und seine Habe« als »Gemeingut des ganzen Staates« ansehen. Eine Gemeinsamkeit alles Eigentums und der gesamten Bewirtschaftung von Grund und Boden wäre noch »zu groß für das heutige Geschlecht und die Art, wie es aufwächst und erzogen wird«. Es bleibt, zusammen mit der Gemeinsamkeit der Frauen und Kinder und aller Habe, ein Ideal »vielleicht für Götter und Göttersöhne«, von dem der Philosoph nicht weiß, »ob es irgendwo existiert oder dereinst kommen wird« (Fünftes Buch der »Gesetze«).
*
Wir haben den Hauptinhalt von Platos Staatslehre auch deshalb etwas ausführlicher dargestellt, weil man darin noch einmal den ganzen Plato mit seiner Ideenlehre, Psychologie und Ethik, überhaupt in seiner Eigenart wie in einen Brennpunkt zusammengefaßt erblickt. Die Hoffnung, die er auf seine Schüler setzte, erfüllte sich nicht. Wohl hat die »Akademie« länger als irgendeine andere Philosophenschule, beinahe noch ein Jahrtausend hindurch bestanden. Aber in all dieser Zeit hat sie wohl manchen redlichen Mann, aber keinen einzigen hervorragenden Kopf hervorgebracht, außer dem erst sechs Jahrhunderte später lebenden Plotín. Sie haben sich gerade an das weniger Dauerhafte in ihres Meisters Lehre, an die mystischen Neigungen und pythagorisierenden Gedanken seines Alters, die wir mit Absicht übergangen haben, angeschlossen und außerdem populären praktisch-ethischen Erörterungen sich zugewandt, denen wir in anderem Zusammenhang noch begegnen werden. Der einzige seiner Schüler, der weltgeschichtliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen kann, schlug völlig andere Bahnen ein. Es war Aristóteles.
Werke
Tetralogie I