etwa auch andere Glauben geben könne?
Erstes Kapitel
1
Auf einem Hügel am Mississippi, wo vor zwei Menschenaltern noch Chippewas lagerten, stand ein Mädchen vor dem Kornblumenblau des nördlichen Himmels. Sie sah jetzt keine Indianer; sie sah Dampfmühlen und blinkende Fenster von den Wolkenkratzern in Minneapolis und St. Paul. Sie dachte auch nicht an Squaws und Tragstrecken, nicht an die Yankee-Pelzhändler, deren Schatten sie rings umgaben. Sie stellte Betrachtungen an über Nußcrême, über die Theaterstücke von Brieux, sie überlegte, warum man Absätze schief tritt, und dachte daran, daß der Chemielehrer ihre neue Frisur, die ihre Ohren versteckte, angestarrt hatte.
Ein frischer Wind, der über tausend Meilen Weizenlandes herkam, legte ihr Taftkleid in Linien so voll Anmut, so voll Leben und bewegter Schönheit, daß das Herz eines zufälligen Beobachters auf der Straße unter ihr sich sehnsüchtig zusammenzog, als er sie so in schwebender Freiheit sah. Sie streckte die Arme aus, sie lehnte sich gegen den Wind, ihr Kleid warf sich und glitzerte, eine Locke flatterte wild. Ein Mädchen auf einer Bergspitze; gläubig, bildsam, jung; sie trinkt die Luft ein, wie sie sich danach sehnt, das Leben zu trinken. Die ewig wehmütige Komödie erwartungsvoller Jugend.
Es ist Carola Milford, die auf eine Stunde aus dem Blodgett College geflohen ist.
Die Tage des Pioniertums, der Mädchen in großen Radhüten und der auf Fichtenlichtungen mit Äxten getöteten Bären sind längst vergessen, und ein rebellisches Mädchen ist der Geist jenes wirren Landes, das der amerikanische Mittelwesten heißt.
2
Das Blodgett College liegt am Rande von Minneapolis. Es ist ein Bollwerk gesunder Religiosität. Es bekämpft noch immer die neuen Ketzereien Voltaires, Darwins und Robert Ingersolls. Fromme Familien in Minnesota, Iowa, Wisconsin und den Dakotas schicken ihre Kinder dorthin, und Blodgett bewahrt sie vor der Verruchtheit der Universitäten. Doch es birgt freundliche Mädchen in sich, junge Männer, die singen, und eine Lehrerin, die wirklich Milton und Carlyle liebt. So waren die vier Jahre, die Carola in Blodgett verbrachte, nicht ganz verloren. Daß die Schule so klein war und daß sie so wenig Rivalinnen hatte, gestattete ihr, mit ihrer gefährlichen Vielseitigkeit Experimente zu machen. Sie spielte Tennis, gab kleine Gesellschaften in ihrer Bude, nahm an einem Theaterseminar für Fortgeschrittene teil, flirtete und trat einem halben Dutzend Gesellschaften bei, welche die Künste pflegten oder eifrig nach einem Etwas jagten, das »Allgemeine Kultur« hieß.
In ihrer Klasse gab es zwei oder drei hübschere Mädchen, aber keine, die eifriger gewesen wäre. Sie hatte außerordentliches Gleichmaß im Lernen und beim Tanzen, obgleich von den dreihundert Studierenden Blodgetts viele gewissenhafter lernten und Dutzende geschmeidiger Boston tanzten. Jede Zelle ihres Körpers war voll Leben – die schmalen Handgelenke, die blühende Haut, die unschuldigen Augen, das schwarze Haar.
Die anderen Mädchen in ihrem Schlafsaal staunten über die Zierlichkeit ihres Leibes, wenn sie sich im Negligé sehen ließ oder naß von der Dusche kam. Sie schien dann nur halb so breit zu sein, als man vermutet hatte. Ein zartes Kind, das mit verständnisvoller Freundlichkeit behandelt werden mußte. »Medium«, flüsterten die Mädchen, und »ätherisch«. Doch so radioaktiv ihre Nerven waren, so abenteuerlich ihre vertrauensvolle Hoffnung auf ziemlich unklar erkannte und begriffene Lieblichkeit und Helligkeit, daß sie mehr Energie entwickelte als alle plumpen jungen Weiber mit Waden in grob gerippten Wollstrümpfen unter den züchtigen blauen Turnhosen, die polternd über den Fußboden der Turnhalle galoppierten, um sich für die Basketball-Damenmannschaft Blodgetts zu trainieren.
Selbst wenn sie müde war, beobachteten ihre dunklen Augen. Sie wußte noch nicht, in welch ungeheuerem Maße die Welt gleichgültiger Grausamkeit und hochmütiger Dummheit fähig ist, aber selbst wenn sie diese traurigen Kräfte kennenlernen sollte, auch dann würden ihre Augen nie trotzig oder schwer oder wässerig verliebt werden.
Trotz all ihrem Enthusiasmus, trotz aller Zärtlichkeit und Geselligkeit, deren Mittelpunkt Carola war, empfanden ihre Bekannten Scheu vor ihr. Ob sie glühend Hymnen sang oder freche Streiche ersann, immer schien sie in aller Freundlichkeit Distanz zu bewahren und kritisch zu bleiben. Vielleicht war sie leichtgläubig; eine geborene Heldenverehrerin; und doch fragte und prüfte sie unaufhörlich. Was immer sie auch werden sollte, Gleichgewicht würde sie nie erlangen.
Sie ließ sich von ihrer Vielseitigkeit verführen. Abwechselnd hoffte sie, eine außergewöhnliche Stimme, schauspielerische Begabung, ein Talent zum Klavierspielen, zum Schreiben, zur Schaffung von Organisationen an sich zu entdecken. Immer war sie enttäuscht, aber immer erglühte sie von neuem – beim Anblick der freiwilligen Studentenmission, beim Malen von Dekorationen für den Theaterklub, bei der Inseratenakquisition für die College-Zeitschrift.
Auf ihrer Höhe war sie, wenn sie am Sonntagnachmittag in der Kapelle geigte. Ihre Violine hob das Orgelthema aus der Dämmerung heraus, das Kerzenlicht zeigte sie in einem glatten, goldschimmernden Kleid, den Arm mit dem Bogen gekrümmt, mit ernstem Mund. Alle Männer verliebten sich dann in die Religion und in Carola.
Während des Seniorenjahres überprüfte sie ängstlich alle Experimente und Teilerfolge für einen Beruf. Täglich, auf den Stufen der Bibliothek oder in der Halle des Hauptgebäudes, sprachen die Kommilitoninnen über das Thema: »Was sollen wir machen, wenn wir mit dem College fertig sind?« Auch die Mädchen, die wußten, daß sie heiraten würden, taten so, als stellten sie Betrachtungen über wichtige Geschäftsstellungen an; auch die, welche wußten, daß sie zu arbeiten haben würden, machten Andeutungen über fabelhafte Verehrer. Carola selbst war Waise; ihre einzige nähere Verwandte, eine lavendelduftende Schwester, hatte einen Optiker in St. Paul geheiratet. Sie besaß nicht mehr viel von dem Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Sie war nicht verliebt – das heißt, nicht oft, und kein einziges Mal lange. Sie mußte sich ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aber wie sie ihn verdienen, wie sie die Welt erobern sollte – fast ausschließlich zum Besten der Welt – das begriff sie nicht. Die meisten der Mädchen, die nicht verlobt waren, wollten Lehrerinnen werden. Von diesen gab es zwei Arten: leichtsinnige junge Weiber, die kein Hehl daraus machten, daß sie vorhätten, »den ekelhaften Klassen und den schmutzigen Kindern« den Rücken zu kehren, sobald sie eine Möglichkeit zum Heiraten sähen; und die fleißigen Mädchen, häufig mit knolligen Stirnen und hervorquellenden Augen, die während der Gebetsandachten Gott baten, »ihre Füße auf die Pfade größter Nützlichkeit zu lenken«. Keine dieser Arten lockte Carola. Die ersten schienen ihr unaufrichtig zu sein (um diese Zeit eines ihrer Lieblingsworte). Von den ernsthaften Jungfrauen, dachte sie, sei zu erwarten, daß sie in ihrem Glauben an Satzanalysen im Cäsar ebenso Schlechtes wie Gutes tun könnten.
Während des Seniorenjahres beschloß Carola endgültig: einmal Jus zu studieren, einmal Filmmanuskripte zu schreiben, Krankenschwester zu werden oder einen nebelhaften Helden zu heiraten.
Dann wurde die Soziologie ihr Steckenpferd.
Der Soziologielehrer war neu. Er war verheiratet und daher tabu, aber er kam aus Boston, er hatte unter Dichtern, Sozialisten, Juden und umstürzlerischen Millionären im Universitätsviertel New Yorks gelebt, und er hatte einen schönen, weißen, starken Hals. Er führte seine kichernde Klasse durch die Gefängnisse, Armenpflegeanstalten und Arbeitsnachweisämter von Minneapolis und St. Paul. Carola ging am Ende des Zuges, voll Empörung über die verletzende Neugier der anderen, über die Art, wie sie die Armen anglotzten, als wären sie in einem zoologischen Garten. Sie kam sich als große Befreierin vor.
Ein Klassenkamerad namens Stewart Snyder, ein tüchtiger, schwerfälliger junger Mann in blauem Flanellhemd, mit verschossener Krawatte und der grünvioletten Jahrgangskappe, knurrte, während er mit ihr hinter den anderen durch den Schmutz der Viehhöfe St. Pauls stapfte: »Diese College-Hammel gehen mir auf die Nerven. Sie sind so aufgeblasen. Die hätten auf dem Land arbeiten sollen