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In den Tagen der ersten Liebe hatte Kennicott ihr die Photographie von Nels Erdstroms kleinem Kind und der Blockhütte gezeigt, doch sie hatte die Erdstroms nie zu Gesicht bekommen. Sie waren bloße »Patienten« des Doktors geworden. An einem Nachmittag in der Mitte des Dezembers telephonierte Kennicott ihr: »Möchtest du dir den Mantel anziehen und mit mir zu Erdstroms hinausfahren? Es ist ziemlich warm. Nels hat die Gelbsucht.«
»O ja!« Hastig legte sie Wollstrümpfe, hohe Schuhe, Sweater, Schal, Mütze und Fäustlinge an.
Der Schnee lag zu hoch, und die Fahrgeleise waren zu hart gefroren, als daß man mit dem Automobil hätte fahren können. Sie benützten einen plumpen, hohen Wagen. Von der Prärie fuhren sie in gerodetes Land, das vor zwanzig Jahren noch Wald gewesen war. Gleichmäßig schien sich das Land bis zum Nordpol zu dehnen; niedrige Hügel, buschbewachsener Boden, schilfbestandene Wasserläufe, Bisamrattenhügel, Äcker mit gefrorenen braunen Klumpen, die durch den Schnee emporragten.
»Es wird kälter«, sagte sie.
»Ja.«
Das war die ganze Unterhaltung während dreier Meilen. Doch sie war glücklich.
Um vier kamen sie zu Nels Erdstrom, und erschüttert erkannte sie den kühnen Wagemut wieder, der sie nach Gopher Prairie gelockt hatte: die gerodeten Äcker, Furchen zwischen den Baumstümpfen, eine Blockhütte, mit Lehm verschmiert und mit trockenem Heu gedeckt. Aber Nels war hochgekommen. Er benützte die Blockhütte als Scheune; ein neues Haus erhob sich, ein stolzes, dummes Gopher-Prairie-Haus, das mit seinem weißen Verputz und den rosa Vertrumpfungen nur um so nackter und anmutloser aussah. Alle Bäume waren gefällt worden. Das Haus war so schutzlos, so dem Wind preisgegeben, so unfreundlich mitten in die rauhe Lichtung gesetzt, daß es Carola schauderte. Allein sie wurden mit warmer Herzlichkeit begrüßt, in der Küche mit der neuen Bemalung, mit dem schwarzen und nickelglitzernden Herd und der Milchzentrifuge, die in einer Ecke stand.
Carola sah einen Jungen von vier oder fünf Jahren, der sie neugierig anstarrte. Ihr fiel etwas ein – was war es nur? Ja – Kennicott saß neben ihr am Fort Snelling und drängte: »Sieh doch, wie verschüchtert das Kleine ist, es braucht eine Frau wie dich.«
Dann klingelte das Telephon, zweimal lang, einmal kurz. Frau Erdstrom lief ins Zimmer und schrie ins Mikrophon: »Hallo? Ja, ja, hier Erdstrom. He? Ach so, Sie wollen den Doktor?«
Kennicott kam und knurrte ins Telephon:
»Ja, was gibt's? Ah, hallo, Dave; was wollen Sie? Welcher Morgenroth? Adolph? Gut. Amputieren? Aha, verstehe. Hören Sie, Dave, Gus soll einspannen und mir mein chirurgisches Besteck hinbringen. Chloroform soll er auch mitbringen. Ich fahr' direkt von hier hin. Vielleicht komm' ich heute nicht mehr nach Haus. Sie können mich bei Adolph erreichen. Wie? Nein, Carrie kann die Narkose machen, glaub' ich. Wiedersehn. Wie? Nein; erzählen Sie mir das morgen – auf den Farmerlinien hören zuviel Leute mit.«
Er wandte sich zu Carola um. »Adolph Morgenroth, Farmer, zehn Meilen südwestlich der Stadt. Er hat sich den Arm zerschmettert – hat seinen Kuhstall gesprengt, ein Pfosten ist auf ihn gefallen – hat ihn ziemlich übel zermalmt – ich werd' vielleicht amputieren müssen, sagt Dave Dyer. Wir werden direkt von hier hin müssen. Tut mir leid, daß ich dich so weit mit mir rumschleppen muß –«
»Du brauchst gar keine Rücksicht auf mich zu nehmen.«
»Glaubst du, daß du eine Narkose machen könntest? Sonst macht sie immer mein Fahrer.«
»Du mußt mir nur sagen, wie ich's machen soll.«
»Schön … Also, Bessie, machen Sie sich keine Sorgen über Nels, der rappelt sich schon wieder hoch. Morgen fahren Sie oder einer von den Nachbarn hinein und lassen das Rezept da bei Dyer machen. Geben Sie ihm alle vier Stunden einen Teelöffel voll. Auf Wiedersehn.«
Der Weg zu Morgenroths Farm war kalt und holprig, und als sie hinkamen, war Carola eingeschlafen.
Hier gab es kein schimmerndes neues Haus mit einem stolzen Grammophon, hier war eine niedrige, getünchte Küche, die nach Milch und Kohl roch. Adolph Morgenroth lag auf einem Sofa in dem selten benützten Eßzimmer. Seine schwere, abgearbeitete Frau rang ängstlich die Hände.
Carola meinte, Kennicott würde etwas Großartiges und Erhebendes tun. Aber er war gleichgültig. Er begrüßte den Mann: »Also, also, Adolph, ich muß Sie wieder in Ordnung bringen, was?« Dann fragte er ruhig die Frau: »Hat die Drogerie meine schwarze Tasche hergeschickt? So, schön. Wieviel Uhr ist's? Sieben? Na, zuerst wollen wir ein bißchen essen. Haben Sie noch was von dem guten Bier?«
In vier Minuten hatte er gegessen. Ohne Rock, mit aufgerollten Hemdsärmeln, bürstete er seine Hände in einem Zinnbecken im Ausguß, mit der gelben Küchenseife.
Carola hatte nicht gewagt, ins andere Zimmer zu blicken, während sie das auf den Küchentisch gesetzte Abendessen, Bier, Roggenbrot, feuchtes Corned Beef und Kohl, herunterwürgte. Der Mann dort drinnen stöhnte. Er lag wie eine Leiche unter einem Leintuch, auf dem sein rechter Arm, in blutgetränkte Handtücher gehüllt, ruhte.
Doch Kennicott schritt munter ins andere Zimmer, und sie folgte ihm. Mit einer zarten Geschicklichkeit, die an seinen plumpen Fingern überraschte, nahm er die Handtücher ab und entblößte einen Arm, der vom Ellbogen abwärts eine Masse aus Blut und rohem Fleisch war. Der Mann schrie auf. Das Zimmer um sie wurde trübe; es war ihr sehr schlecht; sie floh zu einem Stuhl in der Küche. Durch den Nebel ihrer Übelkeit hörte sie Kennicott brummen: »Wird leider runter müssen, Adolph. Was haben Sie gemacht? Auf ein Mähmaschinenmesser gefallen? Wir werden die Sache schon in Ordnung bringen. Carrie! Carola!«
Sie konnte nicht – sie konnte nicht aufstehen. Dann stand sie, ihre Knie waren wie Wasser, der Magen drehte sich ihr tausendmal in einer Sekunde um, ihre Augen verschleierten sich, in ihren Ohren toste es. Sie konnte nicht bis ins Speisezimmer kommen. Sie mußte ohnmächtig werden. Dann war sie im Speisezimmer, lehnte an der Wand, wollte lächeln, an Brust und Seiten überlief es sie heiß und kalt, während Kennicott murmelte: »Hör mal, hilf Frau Morgenroth und mir ihn auf den Küchentisch tragen. Nein, zuerst geht hinaus, schiebt die zwei Tische dort aneinander und legt eine Decke und ein sauberes Leintuch drauf.«
Es war eine Erlösung, die schweren Tische zu schieben, sie zu säubern, das Leintuch sorgfältig glatt zu legen. Ihr Kopf wurde klarer; sie war imstande, ruhig zuzusehen, wie ihr Mann und die Frau den jammernden Mann auszogen, ihn in ein reines Nachthemd bekamen und seinen Arm abwuschen. Kennicott kam seine Instrumente herrichten. Sie begriff, daß ihr Mann – ihr Mann – ohne die Hilfsmittel einer Klinik, ohne sich darum zu bekümmern, eine chirurgische Operation durchführen würde, eine jener wunderbaren Heldentaten, von denen man in Büchern über berühmte Chirurgen las.
Sie half ihnen, Adolph in die Küche zu schaffen. Der Mann hatte solche Angst, daß er seine Beine nicht gebrauchen wollte. Er war schwer und roch nach Schweiß und Stall. Allein sie legte ihm den Arm um die Taille, ihr Kopf war an seiner Brust; sie schleppte ihn.
Als Adolph auf dem Tisch lag, breitete Kennicott ein halbkugelförmiges Gestell aus Stahl und Baumwolle über sein Gesicht und sagte zu Carola: »Jetzt setzt du dich hierher an seinen Kopf und läßt den Äther tropfen – ungefähr in der Geschwindigkeit, siehst du? Ich beobachte seinen Atem. Na, sieh mal! Eine richtige Assistentin! Ochsner hat keine bessere gehabt! Klasse, was? … Na, na, Adolph, nur ruhig. Das tut Ihnen gar nicht weh. Das wird Ihnen wohltun und Sie einschläfern und wird Ihnen gar nicht weh tun. Nicht reden! Bald schläft man wie ein Kind. So! So! Gleich ist es besser!«
Während sie den Äther tropfen ließ und sich aufgeregt Mühe gab, den Rhythmus einzuhalten, den Kennicott gezeigt hatte, starrte sie ihren Mann in überströmender Heldenverehrung an.
Er schüttelte den Kopf. »Schlechtes Licht – schlechtes Licht. Hier, Frau Morgenroth, Sie stellen sich hierher und halten diese Lampe. Hierher, und diese Lampe – diese Lampe halten – so!«
Bei dieser ungleichmäßigen Beleuchtung arbeitete er, rasch und leicht.