durch die ganze Union angepriesenen Waren; die Zeitungen von Landesteilen, die dreitausend Meilen voneinander entfernt sind, haben die gleichen »uniform hergestellten Teile«; der Junge in Arkansas trägt den gleichen, fertiggekauften Anzug wie der Junge in Delaware, beide gebrauchen die gleichen Jargonausdrücke aus den gleichen Sportbeilagen, und wenn einer von ihnen im College ist und der andere als Friseur arbeitet, so kann kein Mensch ahnen, welcher der eine, welcher der andere ist.
Packte man Kennicott und versetzte ihn im Nu aus Gopher Prairie in eine meilenweit entfernte Stadt, er würde nichts merken. Er würde anscheinend die gleiche Hauptstraße (sicherlich würde sie Hauptstraße heißen) entlang gehen, in der gleichen Drogerie würde er die gleichen jungen Männer den gleichen jungen Frauen mit den gleichen Magazinen und Grammophonplatten unter dem Arm die gleiche Eiscrême-Soda servieren sehen. Erst wenn er die Stufen zu seinem Büro hinaufgegangen wäre und ein anderes Schild an der Tür, drinnen einen anderen Dr. Kennicott gefunden hätte, wäre ihm klar geworden, daß aller Wahrscheinlichkeit nach etwas Absonderliches vor sich gegangen sei.
3
Nach allen ihren Erklärungsversuchen begriff Carola schließlich, daß die Präriestädte ebensowenig den Zweck haben, den Farmern, die ihr eigentlicher Existenzgrund sind, zu dienen, wie das Großkapital; sie haben den Zweck, sich an den Farmern zu mästen und den Städtern große Automobile und gesellschaftlich höhere Stellungen zu schaffen; und, ganz anders als die Hauptstädte, geben sie ihrem Distrikt für den mit ihm getriebenen Wucher nicht ein prunkvolles und bleibendes Zentrum, sondern nur dieses armselige Nest. Es ist eine »griechische Parasitenzivilisation« – ohne die Zivilisation.
»Da wären wir also«, sagte Carola. »Das Heilmittel? Gibt es denn überhaupt eines? Kritik vielleicht, für den allerersten Anfang. Oh, alles, was die Stammesgottheit Mittelmäßigkeit angreift, hilft ein wenig … und wahrscheinlich gibt es nichts, was wirklich viel hilft. Vielleicht werden die Farmer eines Tages sich selbst ihre Marktstädte bauen und Herren darüber sein. (Denken Sie nur, was für Klubs sie haben könnten!) Aber ich fürchte, ich habe gar kein ›Reformprogramm‹. Jetzt nicht mehr! Das Leiden ist ein geistiges, und keine Liga und keine Partei kann verfügen, daß den Menschen Gärten lieber sind als Schutthaufen … Das ist mein Bekenntnis. Nun?«
»Mit anderen Worten, was Sie wollen, ist Vollkommenheit?« fragte Vida.
»Ja! Warum nicht?«
»Wie ist Ihnen dieser Ort verhaßt! Wie können Sie erwarten, etwas mit ihm anzufangen, wenn Sie gar kein Mitgefühl haben?«
»Aber das habe ich doch! Sogar Zärtlichkeit. Sonst würde ich ja nicht so toben. Ich habe mittlerweile gelernt, daß Gopher Prairie nicht nur ein Ausschlag auf der Prärie ist, wie ich zuerst dachte, sondern daß es so groß ist wie New York. In New York würde ich nicht mehr als vierzig oder fünfzig Menschen kennen, und soviel kenne ich auch hier. Vorwärts! Sagen Sie mir, was Sie denken!«
»Ja, meine Liebe, wenn ich alle Ihre Ideen wirklich ernst nehmen wollte, müßte ich fast die Flinte ins Korn werfen. Stellen Sie sich vor, wie einem Menschen, der jahrelang schwer gearbeitet und dabei mitgeholfen hat, eine nette Stadt aufzubauen, zumute sein muß, wenn Sie plötzlich hochmütig daherkommen und ganz einfach sagen: ›Miserabel!‹ Halten Sie das für anständig?«
»Warum denn nicht? Die Gopher Prairier müßten ebenso den Mut verlieren, wenn sie Venedig sehen und Vergleiche anstellen würden.«
»Durchaus nicht! Ich stelle mir vor, daß Gondeln ganz nett zum Fahren sind, aber wir haben bessere Badezimmer! Aber – Meine Liebe, Sie sind nicht der einzige Mensch in dieser Stadt, der selbst ein wenig nachgedacht hat, obwohl ich (entschuldigen Sie meine Ungezogenheit) fürchte, daß Sie dieser Meinung sind. Ich will zugeben, daß uns einiges fehlt. Vielleicht ist unser Theater nicht so gut wie die Vorstellungen in Paris. Zugegeben! Ich will keine ausländische Kultur, die uns plötzlich aufgedrängt wird – ob es nun das Straßenbild oder Tischmanieren oder verrückte kommunistische Ideen sind.«
Vida sprach von Dingen, in ihrer Terminologie »praktischen Dingen, die eine Stadt glücklicher und hübscher machen, aber zu unserem Leben gehören und wirklich getan werden können«. Sie redete vom Thanatopsisklub, von dem Warteraum, dem Kampf gegen die Moskitos, vom Feldzug für Gärten und Bäume, und von Kanalisation – Angelegenheiten, die nicht phantastisch und verschwommen und fern seien, sondern naheliegend und durchführbar.
Carolas Antwort war phantastisch, und verschwommen genug:
»Ja … ja … ich weiß. Das ist gut. Aber auch wenn ich alle diese Reformen sofort durchführen könnte, würde ich doch etwas Aufregendes und Exotisches wollen. Das Leben hier ist schon bequem und sauber genug. Und so sicher. Was es braucht, ist weniger Sicherheit und mehr Feuer. Was der Thanatopsis meiner Ansicht nach befürworten sollte, das sind Stücke von Strindberg, antike Tänze – schöne Beine unter Schleiern – und (ich sehe ihn ganz deutlich vor mir!) einen dicken, zynischen Franzosen mit schwarzem Bart, der herumsitzen und trinken, Opern singen und zweideutige Geschichten erzählen, über unsere Korrektheiten lachen, Rabelais zitieren und sich nicht schämen würde, mir die Hand zu küssen!«
»Aha! Wie's mit dem übrigen ist, weiß ich nicht sicher, aber ich glaube, Sie und alle anderen unzufriedenen jungen Frauen wollen im Grunde nichts anderes als irgendeinen Fremden, der euch die Hand küßt!«
Nach solchen Gesprächen war Vida empört; Carola entschuldigte sich; dann redeten sie wieder weiter, ewig Maria und Martha – eine Maria, die sich gegen die Moral empörte, und eine Martha, die reformieren wollte. Und Vida siegte.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
1
Als Amerika in den Weltkrieg eintrat, schickte Vida Raymie in ein Offiziersausbildungslager – nicht ganz ein Jahr nach ihrer Hochzeit. Raymie war eifrig und ziemlich kräftig. Bald war er Oberleutnant der Infanterie und wurde mit einem der ersten Transporte nach Frankreich geschickt.
Carola bekam wirklich Angst vor Vida, als diese ihre Leidenschaftlichkeit, die in der Ehe befreit worden war, an die Kriegssache wandte und alle Duldsamkeit verlor. Als Carola von Raymies Heroismus gerührt wurde und taktvoll davon zu sprechen suchte, behandelte Vida sie, daß sie sich wie ein vorlautes Kind vorkam.
Die Söhne von Lyman Cass, Nat Hicks und Sam Clark rückten ein. Aber die meisten Soldaten waren Söhne deutscher und schwedischer Farmer, die Carola nicht kannte. Dr. Terry Gould und Dr. McGanum wurden Regimentsärzte und kamen in Iowa und Georgia in Garnison. Außer Raymie waren sie die einzigen Offiziere aus dem Bezirk Gopher Prairie. Kennicott wollte mit ihnen gehen, aber die Ärzte der Stadt vergaßen ihre Rivalität und entschieden sich in einer Beratung dafür, daß er warten und für die Stadt sorgen sollte, bis er gebraucht würde. Kennicott war jetzt zweiundvierzig; der einzige jüngere Arzt, der im Umkreis von achtzehn Meilen noch da war. Der alte Dr. Westlake, der sein Behagen liebte wie eine Katze, fuhr unter Protesten nachts über Land und suchte in der Kragenschachtel nach seinem Bürgerkriegsveteranen-Abzeichen.
Carola wußte nicht recht, wie sie über Kennicotts Gehen dachte. Entschieden war sie keine Spartanerin. Sie wußte, daß er gehen wollte; sie wußte, daß diese Sehnsucht immer in ihm steckte, hinter seiner angestrengten Arbeit und seinen Kommentaren über das Wetter. Sie empfand bewundernde Zuneigung für ihn – und war traurig, daß sie nicht mehr als Zuneigung aufbrachte.
Cy Bogart war der Renommierkrieger der Stadt. Cy war nicht mehr der schlaksige Junge, der im Speicher über dem Garageschuppen Unterhaltungen über Carolas Selbstsucht und über die Geheimnisse der Zeugung führte. Er war jetzt neunzehn Jahre alt, groß, breit, geschäftig, der »Mordskerl« von Gopher Prairie, berühmt für seine Tüchtigkeit im Biertrinken und Würfelspielen und im Erzählen von unangenehmen Geschichten, der Schrecken der Mädchen, die er von seinem Posten vor Dyers Drogerie durch »Zurufe« in Verlegenheit brachte.