Karl Kautsky

Thomas More und seine Utopie


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des Mittelalters und dem Beginn der neuen Zeit zwei eigentümliche Erscheinungen: es ersteht ein Hunger nach Land, und zwar namentlich nach solchem Land, das zu seiner Bewirtschaftung wenig Hände benötigt, z. B. Wälder und Weiden. Und gleichzeitig damit geht das Bestreben, die landwirtschaftliche Bevölkerung möglichst zu lichten, teils dadurch, daß man Kulturen, die viele Hände erfordern, durch andere ersetzt, die weniger Hände beanspruchen, teils durch Vermehrung der Arbeitslast der einzelnen Landbebauer, so zum Beispiel dadurch, daß jetzt zwei Leute leisten, was bisher drei geleistet haben, und der dritte überflüssig wird.

      Auch die Feudalzeit hatte ihren Landhunger, der ebenso gierig war, wie der der Neuzeit; aber sein Charakter war ein ganz anderer. Die alten Feudalherren waren lüstern nach dem Lande mit den Bauern, die neuen Herren verlangten nach dem Lande der Bauern.

      Was der Feudaladel verlangte, das war nicht Land allein, sondern Land und Leute. Je dichter besiedelt sein Grund und Boden war, desto größer die Zahl der Abgaben Entrichtenden und Dienste Leistenden, desto größer das kriegerische Gefolge, das er erhalten konnte. Das Streben des mittelalterlichen Adels ging nicht dahin, die Bauern zu verjagen, sondern sie an die Scholle zu fesseln und soviel als möglich neue Ansiedler heranzuziehen.

      Anders der neue Adel.

      Da die Bauernschinderei nicht Geld genug abwarf, sah er sich immer mehr gezwungen, selbst zur Warenproduktion überzugehen, eigene landwirtschaftliche Betriebe einzurichten – in England wurden diese bald an kapitalistische Pächter übergeben –: dazu bedurfte man eines Teiles des Bauernlandes, aber nicht seiner Inhaber. Man hatte alles Interesse daran, sie zu vertreiben.

      Dazu kam, daß, wie erwähnt, Weiden und Wälder einen Wert erhielten. Die Feudalherren fingen jetzt an, die Gemeinweiden und Gemeinwälder als Privateigentum an sich zu ziehen und die Bauern von deren Benutzung auszuschließen.

      Von den Gemeinweiden hing aber die Erhaltung des Viehstandes des Bauern ab; das Rindvieh wiederum war für ihn nicht nur nützlich wegen des Ertrags an Milch, Fleisch und Häuten, sondern geradezu unentbehrlich für den Ackerbau als Zugvieh und Düngerlieferant. Die Wälder waren für den Bauern wichtig wegen der Jagd, der Holz- und Streunutzung und auch als Weidegrund für die Schweine. Mit den Gemeinwäldern und Gemeinweiden wurden also dem Bauern wichtige Betriebsmittel entzogen; und gleichzeitig ruinierten ihn, wie schon erwähnt, die Geldabgaben. Kein Wunder, daß ein Bauer nach dem anderen zugrunde ging und aus seinem Heime vertrieben wurde, nicht durch das »Judentum«, sondern durch den christlich-germanischen Adel. Wo der ökonomische Prozeß das Bauernlegen nicht so schnell vorangehen ließ, als den Interessen des Grundherrn entsprach, half dieser vielfach nach durch Prozesse auf Grundlage eines den Bauern unbekannten Rechtes, des römischen, das den großen Grundbesitzern jetzt sehr gut paßte, oder aber auch durch direkte physische Gewalt ohne jeden Versuch eines Vorwandes.

      Eine massenhafte Proletarisierung des Landvolkes war die Folge dieser Entwicklung. Das Proletariat wurde noch vermehrt durch die Aufhebung der Klöster, von der wir noch in einem anderen Zusammenhang sprechen werden, und die Auflösung der Gefolgschaften.

      Solange für die Produkte der Landwirtschaft kein Markt vorhanden war, wußten die Grundherren mit den massenhaften Lebensmitteln, welche ihnen ihre Hintersassen lieferten, nichts anderes anzufangen, als sie zu konsumieren. Und da sie trotz ihrer guten Mägen das allein nicht zustande brachten, luden sie andere dazu ein, ihnen zu helfen, gute Freunde, fahrende Ritter, reisige Knechte, die von ihnen abhängig wurden, ihr Gefolge bildeten, ihnen Ansehen und Macht verliehen. Der Graf von Warwick soll auf seinen Schlössern jeden Tag 30 000 Menschen gespeist haben. Dafür war er aber auch mächtig genug, Könige ein- und abzusetzen. Er war der »Königsmacher«.

      Das änderte sich, als sich den Grundbesitzern die Möglichkeit bot, den Überschuß an landwirtschaftlichen Produkten, den sie nicht verzehren konnten, zu verkaufen, dafür etwas einzutauschen, was unter den neuen Verhältnissen mehr Macht und Ansehen Verlieh als ein Gefolge, nämlich Geld. Gleichzeitig wuchs die Macht der Landesfürsten und damit die Macht der Polizei. Die inneren Fehden wurden immer seltener, damit die Gefolgschaften immer überflüssiger. Sie fingen an, ihren Herren als Banden unnützer Fresser zu erscheinen, die man sich soviel als möglich vom Halse schaffen mußte. Die Landesfürsten förderten die Auflösung der Gefolgschaften, indem sie dieselbe vielfach in Fällen erzwangen, wo die Gefolgschaft noch eine Macht war, die gefährlich werden konnte.

      Die Auflösung der Gefolgschaften, die Legung der Bauern und, seit der Reformation, die Einziehung der Klöster schufen rasch eine ungeheure Masse von Proletariern.

      2. Das Proletariat.

      Die germanischen Völker, die in das römische Reich einbrachen, hatten mit der römischen Produktionsweise auch die Möglichkeit der Verarmung übernommen. Bereits zur Zeit der Merowinger finden wir unter den Bettlern an den Kirchentüren auch solche mit fränkischen Namen erwähnt. (Paul Roth, Geschichte des Benefizialwesens von den ältesten Zeiten bis ins zehnte Jahrhundert. Erlangen 1850. S. 185.) Das ganze Mittelalter hindurch ist die Sorge für die Armen eine der wichtigsten Funktionen der Kirche. Aber die Armut war doch bloß eine vereinzelte Erscheinung. Wohl kannte das Mittelalter auch Notstände der Massen, aber diese waren in der Regel dem äußeren Feinde oder der Natur zuzuschreiben, Plünderungszügen der Ungarn oder Normannen, Mißwachs usw. Diese Notstände erstreckten sich mehr oder weniger auf das ganze Volk und waren vorübergehender Natur. Erst mit dem Beginn der neuen Zeit ersteht wieder ein Proletariat als besondere, zahlreiche Klasse der Gesellschaft, als stehende Institution, wie es am Ende der römischen Republik und in der Kaiserzeit bestanden.

      Aber zwischen diesem neugeschaffenen und dem antiken Proletariat bestand ein großer Unterschied. Das neue Proletariat fand nicht eine Klasse vor, die noch unter ihm stand, von deren direkter oder indirekter Ausbeutung es hätte leben können, keine Sklaven und keine rechtlosen Provinzialen. Das moderne Proletariat besaß aber zur Zeit seiner Entstehung auch keine Souveränitätsrechte, aus deren Verkauf es hätte Gewinn ziehen können, wie der souveräne Pöbel des alten Rom. Das moderne Proletariat entstand nicht als Bodensatz der herrschenden, ausbeutenden Klassen, es bildete sich aus der Auflösung beherrschter, ausgebeuteter Klassen. Zum erstenmal in der Weltgeschichte sehen wir im fünfzehnten Jahrhundert eine Klasse freier Proletarier erstehen als die unterste Klasse der Gesellschaft, eine Klasse, deren Interessen nicht die Ersetzung der Klassenherrschaft, die sie vorgefunden, durch eine andere, sondern die Aufhebung jeder Klassenherrschaft fordern.

      Von der großen weltgeschichtlichen Rolle, die damit dem Proletariat zugefallen war, hatte freilich – und wie wäre es anders möglich gewesen? – zur Zeit seiner Entstehung niemand eine Ahnung, am allerwenigsten die Proletarier selbst.

      Daß sie die unterste Klasse der Gesellschaft waren, kam ihnen allerdings nur zu deutlich zum Bewußtsein. Nichts nannten sie ihr eigen, als ihre Arbeitskraft, und sie hatten keine Wahl, als sie zu verkaufen oder elend zu verhungern.

      Mit der neuen Ware erstanden auch gleichzeitig die Käufer für sie: die Kriegsherren und die Kaufleute. Sie bedurften ihrer in den Söldnerheeren und den Manufakturen. Die Proletarisierung der Massen durch die oben gekennzeichneten Methoden war ebenso wichtig für die Entwicklung des Kriegswesens wie der Industrie. Aber bei weitem nicht alle freigesetzten Leute fanden in diesen beiden Zweigen menschlicher Tätigkeit ihr Unterkommen. Was die kapitalistischen Manufakturen vornehmlich brauchten, das waren geschickte Arbeiter, und die fanden sie nur spärlich unter den davongejagten Bauern, Kriegsknechten, Mönchen. Wohl begann das Handwerk bereits Proletarier zu liefern – die Zunftmeister klagten schon damals über die Konkurrenz der Kaufleute, welche fremde Waren einführten und die Produkte der heimischen Industrie in Manufakturen außerhalb des Bereichs des Zunftwesens herstellen ließen – aber das Handwerk stand im allgemeinen noch auf festen Füßen. Kein Wunder, daß die Kapitalisten über Arbeitermangel jammerten, indes die Arbeitslosen zu Tausenden herumliefen.

      Die Kriege nahmen bedeutende Menschenmassen in Anspruch; aber das Landvolk war zum großen Teile des Waffenhandwerks entwöhnt, und der Krieg wurde gerade seit dem Ausgang des Mittelalters eine Kunst, die gelernt sein wollte. Nicht jeder konnte Soldat werden; wer es aber wurde, der blieb es, der wurde unfähig zu einem anderen Gewerbe. Die stehenden Heere waren indes im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert noch sehr gering;