seinen Vorlesungen systematisch Bibeltexte aus. Aber er schrieb und predigte immer für die jeweilige Situation, sprach aktuelle Probleme an und beantwortete drängende Fragen. Eine »Theologie Martin Luthers« muss man sich aus seinen Schriften, Predigten, Briefen und Tischreden zusammensuchen und in etwas Kleinarbeit erschließen.
Nach diesem Schnelldurchgang wird es Zeit für ein paar Buchempfehlungen:
Eine wichtige Biografie ist Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs von Heinz Schilling (München, 2012). Auf über 700 Seiten erfährt man viel über Martin Luther und seine Zeit.
Eher auf die Persönlichkeit Martin Luthers konzentriert sich Heiko A. Oberman mit Luther: Mensch zwischen Gott und Teufel (Berlin, 1982; vergriffen, aber unter www.zvab.com
in verschiedenen Auflagen gebunden und als Taschenbuch zu finden). Oberman interessiert das Innenleben Luthers als Mensch seiner Zeit. Sehr interessant und oft überraschend. Ebenfalls mit Luthers Charakter setzt sich die Historikerin Lyndal Roper auseinander: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie (Frankfurt am Main, 2016).
Wen Martin Luthers Theologie interessiert, sollte Die Theologie Martin Luthers: Eine kritische Würdigung von Hans-Martin Barth (Gütersloh, 2009) lesen. Mit dem gut gegliederten Buch kann man tief in Luthers Denken eintauchen.
Ein Mann in Angst: Martin Luther vor dem Kaiser
Zurück in Rom ruhte Johannes Eck nicht eher, als bis der Papst Luther mit dem Bann drohte. Ein Bann bedeutete Ausschluss aus der Kirche (die sogenannte Exkommunikation). Der Papst übersandte Luther die »Bannandrohungsbulle«, die mit den Worten »Erhebe Dich, Herr, ein wildes Schwein will Deinen Weinberg verwüsten« begann.
In der päpstlichen Bulle wurde von Luther der Widerruf seiner Schriften und die Unterordnung unter den Papst verlangt, ohne sich wirklich mit seinen Argumenten zu beschäftigen. Es blieb dabei: Papst Leo X. wollte seine Ruhe und seinen Dom. Was kümmerte ihn die Kritik eines kleinen Mönchs im kalten, unfreundlichen Deutschland?
Die päpstliche Bulle
Eine »Bulle« ist die feierlichste Form einer päpstlichen Mitteilung. Den Namen hat sie vom Bleisiegel (lateinisch bulla, italienisch bolla). Sie wird seit dem 20. Jahrhundert nur noch selten ausgestellt, häufiger ist heute das Rundschreiben an die Bischöfe, die päpstliche »Enzyklika«. Eine Bulle wird nach ihren (lateinischen) Eingangsworten benannt. Bullen waren zum Beispiel:
»Execrabilis« (»Abscheulich«, 1460): Darin verbot Papst Pius II., durch ein Konzil Berufung gegen Urteile des Papstes einzulegen.
»Exsurge Domine« (»Erhebe Dich, Herr«, 1520): Forderte von Luther die Widerrufung seiner Thesen und droht ihm den Bann an.
»Decet romanum pontificem« (»Es gefällt dem römischen Pontifex«, 1521): Diese Bulle schloss Martin Luther endgültig aus der Kirche aus (»Exkommunikation«).
»Inter gravissimas« (»Zu den wichtigsten Aufgaben …«, 1582): Führte den gregorianischen Kalender ein.
»Pastor aeternis« (»Der ewige Hirte«, 1870): Die Unfehlbarkeit des Papstes wurde zum Glaubenssatz (Dogma) erhoben, den jeder Katholik glauben muss.
Mittlerweile wurden an verschiedenen Orten Luthers Schriften verbrannt, aber Luther schritt zur Gegenaktion. Am 10. Dezember 1520 verbrannten Luther und seine Studenten Bücher über Kirchenrecht, katholische Theologie und eben auch die Bannandrohungsbulle. Luther wollte sich vom Papst und seinen Bischöfen nichts mehr sagen lassen. Doch noch einmal wurde er zu einer Anhörung vorgeladen, die 1521 auf dem Reichstag in Worms am Rhein stattfinden sollte.
Eingeladen hatte ihn der im Juli 1519 von den Kurfürsten gewählte Kaiser Karl V. (1500–1556). Natürlich versprach man Luther auch freies Geleit, aber was das wert war, wusste er ja aus dem Schicksal von Jan Hus in Konstanz (siehe Kapitel 1). Allerdings hielt auch Kurfürst Friedrich der Weise seine Hand über Luther. So konnte er sich ein wenig sicherer fühlen.
Unterwegs nach Worms wurde Luther an vielen Orten bejubelt. Er war jetzt schon ein berühmter Mann, den viele Menschen bewunderten. Ihm waren solche Hochgefühle fremd: Auf dem Weg nach Worms war Luther ein Mann in Angst. Nicht nur, weil ihm Gefahr für Leib und Leben drohte, sondern auch, weil er sich niemals gedacht hatte, dass er einmal in einen grundlegenden Konflikt mit seiner Kirche geraten könnte.
Als er im April 1521 in Worms ankam, war Luther ein innerlich kämpfender Mann voller Zweifel. Denn vielleicht war Luther naiv gewesen: Er hatte erwartet, dass Papst, Kardinäle und die herrschenden Fürsten sich seiner Kritik anschließen würden und die Kirche nach seinen Vorschlägen neu gestalten (also: reformieren) würden. Nun fand er sich ganz allein wieder. Und alle Mächtigen, weltliche wie geistliche, wollten im Grunde nur noch sein Schweigen oder, wenn nötig, seinen Tod. Vor seinem alles entscheidenden Auftritt war Martin Luther nicht der strahlende, mutige Held. Er war verzweifelt und enttäuscht.
Am 17. April 1521, dem ersten Tag des Verhörs vor dem Kaiser, war Luther so verängstigt, dass ihm die Stimme wegblieb und man ihn kaum verstehen konnte. Eigentlich hatte er auch nicht mit einem Verhör gerechnet, sondern wieder einmal mit einer Disputation, einem Streitgespräch. Aber seine Gegner hatten anderes im Sinn. Nach dem ersten Verhör riss Luther die Hände nach oben: »Ich bin hindurch! Ich bin hindurch!«, rief er. Doch auf die entscheidende Frage, ob er seine Schriften widerrufen würde, hatte er sich einen Tag Bedenkzeit erbeten. Dieser eine Tag sollte alles entscheiden: Widerrufen mit der Aussicht auf ein ruhiges Leben? Oder weiter auf dem Wort Gottes allein beharren und den Tod vor Augen haben?
Am 18. April 1521 musste Luther nun endgültig Farbe bekennen. Es kam zu seiner berühmten Rede vor dem Kaiser, die er mit folgenden Worten beendete:
»Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.
Gott helfe mir, Amen.«
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Projekt Gutenberg-DE)
Ein berühmter Satz findet sich im Text nicht: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Anscheinend hat Luther das in Worms nicht gesagt. Ein kreativer Herausgeber oder Drucker hatte das wohl hinzugefügt, um die Dramatik der Rede noch zu verstärken. Und ganz ungeschickt war das nicht gemacht. Was könnte die Macht des Gewissens besser verstärken als ein »Ich kann nicht anders«?
So wenig Luther auf dem Reichstag politisch bewirken konnte, so stark war die Wirkung seiner Rede auf die evangelische Bewegung. Das Wort Gottes – »allein die Schrift« – und das daran gebundene Gewissen wurden grundlegend für den evangelischen Glauben. Kein stures »Ich will nicht widerrufen« prägte Luthers Rede, sondern das vielleicht verzweifelte »Ich kann nicht widerrufen!«.
Doch so berühmt Luthers Rede ist, so vergessen ist heute Kaiser Karls bittere Antwort: »Ich habe mich entschlossen, alles gegen Luther einzusetzen: meine Königreiche und Herrschaften, meine Freunde, meinen Leib, mein Blut, mein Leben und meine Seele.« Dieser verbitterte Einsatz von Kaiser Karl sollte die evangelische Bewegung noch an den Rand des Unterganges bringen, die Reformation auslöschen konnte aber auch Karl V. nicht mehr.
Kaiser Karl hielt Wort. Im Jahre 1523 ging er mit unerbittlicher