Mit der Aufstellung der Holzbaracken für den Winter war gerade erst begonnen worden. Bis spät in den Herbst hinein mussten wir in mit Sackleinen bespannten Unterständen leben und auf dem Boden schlafen.
Es wurden neue Befehle ausgegeben, denen zufolge wir in die Chelsea-Baracken umquartiert werden sollten. Diese erfreuliche Nachricht gab uns Grund zu feiern, denn es bedeutete, dass wir endlich ein richtiges Dach über dem Kopf haben würden. Nach Beendigung der Grundausbildung wurde das Regiment ins Ausland abkommandiert, wo wir das Gelernte praktisch anwendeten.
Im darauf folgenden Jahr kam ich zum Glück oft um Haaresbreite davon, verlor aber viele Freunde auf dem Schlachtfeld, bevor das Schicksal dann ein letztes Mal zuschlug. Bereits 1916 wurde meine Zeit knapp. Ich wurde in die Schützengräben verlegt. Die Deutschen beschossen unsere Frontlinien und das Niemandsland dazwischen mit Granaten. Wir warteten auf den Angriff, der, wie wir wussten, auf das Sperrfeuer folgen würde. Es kam zu einem grimmigen Nahkampf, aber wir schlugen sie zurück, wobei es auf unserer Seite nur geringe Verluste gab. An der Front wurde der Befehl ausgegeben, wir sollten zum Gegenangriff übergehen, bevor sich die Deutschen neu formieren konnten.
Bei Einbruch der Dunkelheit lag Stille über dem Schlachtfeld, man hörte nur ein paar Granaten explodieren, die den Nachthimmel erhellten. Vorsorglich duckte ich mich, denn die deutschen Heckenschützen brauchten nicht viel Licht, um ihr Ziel zu treffen. Plötzlich ertönte der Pfiff und man hörte den Schrei »Auf sie, Jungs!«
Wir waren erfüllt vom Kampfgeist, der nur in dieser einzigartigen Kameradschaft entstehen kann, die es in solchen Situationen gibt. Auf diesen Augenblick hatten wir die ganze Zeit gewartet. Mit aufgesteckten Bajonetten drängten wir über die Brustwehr. Für die Deutschen war unser Kommen nicht überraschend, denn sie bewarfen uns mit allem, mit Ausnahme des Spülbeckens.
Während wir auf Niemandsland vorrückten, wurde ich von einem Granatsplitter in der Brust getroffen. Stundenlang lag ich im Todeskampf auf dem Boden. Die Dämmerung zog auf und ich spürte, wie ununterbrochen Wellen von vorwärts stürmenden Männern über mich hinwegstolperten
Nach einer Weile wurde ich aufgrund des Blutverlusts bewusstlos. Bei Sonnenuntergang kam ich dann wieder zu mir. Über allem hing ein unheimlicher Nebel. Ich betete darum, eine Granate möge mich treffen und meinen Todeskampf beenden, denn der quälende Schmerz war unerträglich. Wieder wurde ich bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich benommen, verspürte aber wenig Schmerzen und fühlte mich nicht mehr schwach und müde. Ich legte die Hand auf die Brust, um festzustellen, wie viel Schaden der Granatsplitter angerichtet hatte. Zu meinem Erstaunen hatte meine Uniformjacke keinen einzigen Riss. Ich zog mich mühsam hoch, weil mich völlige Dunkelheit umgab. Obwohl sie entfernt schienen, hörte ich die Gewehrschüsse und das Geschrei um mich herum. Nach einer Weile gewöhnte ich mich an die Dunkelheit, die einem dicken Nebel glich, und sah dunkle Schatten darin hin und her huschen. Andere Schatten lagen reglos da. Ich beschloss, weiterzugehen; ich wollte nicht geschnappt oder von den übrigen Jungs getrennt werden.
Was dann geschah, ist schwer zu erklären. Es war wie ein Traum, in dem man versucht, weiterzugehen, aber es nicht kann. Etwas hinderte mich daran, mich mehr als ein oder zwei Schritte weiterzubewegen. Ich tastete mich ab und entdeckte eine Schnur, die sich auf geheimnisvolle Weise an mich gehängt hatte. Ich ergriff sie und zerrte daran, konnte sie aber nicht lösen. Ich sah an meinen Händen hinunter bis zu der Stelle, wo sie als nicht erkennbare dunkle Form endete. Das verwirrte mich ziemlich und löste Beklommenheit, ja Schrekken in mir aus. Ich setzte mich hin, um nachzudenken.
Den Kopf in den Händen vergraben, überlegte ich fieberhaft, was ich als Nächstes tun sollte. Plötzlich hörte ich Stimmen in der Nähe, und als ich die eines Freundes erkannte, rief ich nach ihm; doch ich bekam keine Antwort. Ich zog mich hoch und rief: »Ich bin hier!« Die Stimmen wurden lauter und zwei schattenhafte Gestalten bewegten sich auf mich zu.
»Passt doch auf!«, schrie ich, als sie geradewegs durch mich hindurchgingen. Sie knieten sich neben die schattenhafte Masse, an der ich festgebunden war, und einer schien etwas damit zu machen. Ich war verwirrt und dachte, ich sei im Delirium, doch wenigstens hatten sie mich gefunden. Plötzlich hörte ich, wie einer der Schatten ausrief: »Er ist tot, armer Kerl, wir bringen ihn am besten zurück.« Ich fragte mich, über wen sie sprachen. Beide beugten sich hinunter und hoben zu meinem Erstaunen die schattenhafte Masse hoch, an der ich festgebunden war. Als sie sich fortbewegten, wurde ich von dieser geheimnisvollen Schnur mitgezogen. Ich schrie, sie sollten stehen bleiben. »Um Himmels willen, was tut ihr da? Ich kann euch sehen, ich kann euch hören, warum gebt ihr keine Antwort?« Aber es war zwecklos.
Dann brandeten die Worte eines der beiden Schatten zurück: »Er ist hinüber, der arme Kerl.« Ich sagte mir die ganze Zeit: »Ich kann doch nicht tot sein, ich kann hören und sehen; zwar nicht besonders gut, aber ich kann sehen.« Ich hoffte und betete, dass sie sich irrten. Bei einem niedrigen Gebäude blieben sie stehen und hielten noch immer den Schatten, an dem ich festgebunden war.
Eine neue Stimme sagte: »Bringt ihn nicht hierher, er ist schon eine Weile tot. Legt ihn hinten zu den anderen, die begraben werden sollen.« Ich erinnere mich vage an die Worte, die bei der Trauerfeier gesprochen wurden, dann war es still. Die Schatten wandten sich zum Gehen und zum letzten Mal vernahm ich die Stimme meines Freundes: »Er war ein netter Typ.«
Die Stimmen verloren sich allmählich im Nebel und ich hörte nichts mehr. Langsam fuhr ich mit den Händen über Körper und Gesicht. Ich hatte immer noch einen Körper, aber irgendetwas mussten sie ja begraben haben. Inzwischen dämmerte es mir langsam, dass ich vielleicht wirklich tot war. Ich war entsetzlich verwirrt und hatte Angst. Ich fragte mich, was wohl als Nächstes passieren würde. Falls ich tot war, wo war dann der Himmel? Ich fing an, hemmungslos zu weinen, und stieß hervor: »Lieber Gott, bitte hilf mir. Ich weiß, ich bin nie in die Kirche gegangen, aber ich habe immer versucht, ein guter Mensch zu sein.«
Seltsamerweise verwandelte sich meine Angst in Wut. Mein ganzer Körper begann zu pulsieren. Ich wollte verzweifelt von dieser Schnur loskommen und meine Wut gab mir die Kraft dazu. Ich ergriff sie und zog daran. Ich kann nicht ohne weiteres beschreiben, was ich anschließend fühlte. Ich empfand eine Leichtigkeit in meinem Körper und Geist. Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal, seit ich verletzt worden war, einen klaren Kopf zu haben. Jetzt war ich frei!
Ich sah an mir herunter und starrte hinüber zu der Stelle, von der das Kriegsgeschrei zu mir drang. Ich konnte viele Gestalten sehen, die umherrannten und zu Boden fielen. Manche standen wieder auf, manche lagen einfach da. Eine der Gestalten fiel mir besonders auf. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass ein dünner Nebel aus ihr strömte und die Gestalt eines Mannes annahm, der über der dunklen Masse schwebte. Erstaunt mutmaßte ich, dass mir wohl dasselbe widerfahren war. Darauf sah ich eine vollständige Gestalt, an der eine dünne Silberschnur hing, die mit dem Schatten am Boden verbunden war. Ich sah weiter hin. Der Mann fing an, sich zu regen und zu kämpfen. Offensichtlich konnte er nicht verstehen, was da vor sich ging–genauso wenig wie ich gerade. »Armer Kerl, vielleicht kann ich ihm wenigstens irgendwie helfen«, dachte ich.
Es war nicht weit bis zu ihm. Beim Näherkommen hörte ich seine Schreie, als er kämpfte. Ich rief: »Keine Panik! Ich helfe dir.« Gleichzeitig dachte ich: »Bloß wie? Du bist ja viel größer als ich.« Als er mich sah, fing er an zu schreien: »Hilf mir, Kumpel, was ist los mit mir?«. »Na ja«, sagte ich, »ich glaube, wir sind tot!«
»Blöder Idiot«, rief er. »Wieso soll ich denn tot sein? Ich rede doch mit dir! Wie könnte ich denn tot sein? Wenn man tot ist, ist man tot, das weiß doch jeder.«
»Na ja, Kumpel«, sagte ich, »hör einfach auf zu denken. Kannst du dich von dort wegbewegen, wo du bist?« Plötzlich malte sich Entsetzen auf seinem Gesicht. »Nein«, kam seine Antwort, »ich kann nicht. Etwas hält mich fest. Ich glaube, so eine Art Kordel.«
Ich schlang die Arme um seinen Brustkorb. »Zieh, komm schon!«, rief ich. Mit einem gewaltigen Ruck riss er sich von dem dunklen Schatten am Boden los. Er kam viel schneller von seiner dunklen Gestalt los als ich. Ich weiß nicht, wie oder warum, aber so war es. Er war frei und ich auch. Und so begann unsere Reise in das neue Leben.
»Ich heiße James, aber meine