Tabita Dietrich

VERURTEILT!


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      Die Reise über das Meer nach Trinidad war lang und mühselig. Mit Handschellen wie eine Schwerverbrecherin vor allen Leuten über die Reeling zu laufen, war eine zutiefst demütigende Erfahrung, die ich keinem Menschen wünsche. In den 28 Tagen im Frauengefängnis hatte ich Zeit, genügend Informationen zu sammeln, um zu erfahren, dass ich wahrscheinlich am schnellsten aus dieser Sache herauskommen könnte, wenn ich auf schuldig plädieren und meine Strafzeit akzeptieren würde. Ich erfuhr, dass, wenn ich nicht auf schuldig plädierte, die Drogen zur Beweisaufnahme in ein Labor geschickt würden. Bis diese Beweisaufnahme dann abgeschlossen wäre, könnten ein bis zwei Jahre vergehen, in denen ich alle 28 Tage eine anstrengende dreitägige Reise zurück nach Tobago auf mich nehmen müsste, während der ich auf harten Steinböden schlafen und stundenlang in Zellen für den Weitertransport warten müsste, nur um ein weiteres Mal vor Gericht zu erscheinen und gesagt zu bekommen, dass der Fall vertagt werden würde. Ich wäre im System verloren. Niemand würde sich mehr um mich kümmern.

      Ich erfuhr außerdem, dass bei einem Drogendelikt normalerweise neben einer Verurteilung eine Buße verhängt würde, die nach Bezahlung meist zur Freilassung führte. Das weckte meine Hoffnungen. Darauf setzte ich, denn ich wollte auf keinen Fall auch nur einen Tag länger in dieser Hölle bleiben. Der Glaube daran, diese Buße zu erhalten, erhöhte sich, als ich in meiner Zeit in Arouca vor der Verurteilung miterlebte, wie eine Amerikanerin, die die gleiche Geschichte erlebt hatte wie ich und auch auf schuldig plädierte, mit einer Strafe von fünf Jahren und einer Geldbuße von 25000 TTD belangt wurde. Das sind umgerechnet etwa 2500 US Dollar. Ihre Familie bezahlte die Buße und sie konnte nach Hause zurückkehren, ohne die nächsten fünf Jahre, von denen sie drei Jahre und vier Monate hätte absitzen müssen, im Frauengefängnis von Arouca zu verbringen. Ich freute mich so sehr für sie und war in diesem Augenblick felsenfest davon überzeugt, dass ich ebenfalls eine Buße erhalten und nach Hause zurückkehren würde.

      Als ich am 38. Tag nach meiner Verhaftung wieder vor Gericht stand, hatte ich 38 Tage gefastet und gebetet, um eine Buße zu erhalten und zurück nach Hause zu können. Meine Mutter und mein Freund reisten aus der Schweiz an, um das nötige Geld zu bezahlen und mich mit nach Hause zu nehmen. Doch es kam alles ganz anders als erhofft. Ich wurde am 21. 8. 2013 zu drei Jahren Haft mit »Hard Labour« ohne Buße verurteilt. Meine Mutter und mein Freund brachen weinend zusammen, während ich noch gar nicht richtig fassen konnte, was dieses Urteil wirklich zu bedeuten hatte. Die Beamten wollten mich gleich aus dem Gerichtssaal entfernen, als meine Mutter und mein Freund zu mir rannten. Ich sagte zu meiner Mutter: »Ich weiß nicht, ob ich das überleben werde.« Woraufhin sie erwiderte: »Du musst!« Dann rissen sie uns auseinander und meine lange und einsame Reise in einem fremden Land fernab von allem mir Bekannten begann.

      Meine Mutter und mein Freund kamen mich nach der Verhaftung besuchen und meine Mutter wollte gleich den Gefängnisdirektor sprechen. Als ich dann in den Besucherraum geführt wurde, waren meine Mutter, mein Freund und der Gefängnisvorsteher zugegen. Ich wusste damals nicht, dass meine Mutter ihm erzählt hatte, dass ich male und zeichne. Doch anscheinend redete sie stark auf ihn ein und hinterließ einen so bleibenden Eindruck, dass ich die weiteren Monate einen Aufpasser hatte. Von meinem Freund wusste ich, dass er auf mich warten würde, das hatte er mir versprochen. Als wir uns in diesem Raum in die Augen blickten, blieb die Welt um uns stehen; ich wusste in dem Moment und weiß es auch jetzt noch genau, als ob es gestern gewesen wäre, dass dies nicht das Ende unserer gemeinsamen Reise gewesen sein würde. Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter für die nächsten zwei Jahre gesehen habe. Sie musste zurückfliegen in die Schweiz und konnte nicht, wie mein Freund, noch eine Woche länger bleiben.

      Meine Mutter redete auf die Mitarbeiter und die Gefängnisleitung ein, sodass meinem Freund ein zweiter Besuch gewährt wurde, bevor er zurückfliegen musste. Er kam mich nach der Abreise meiner Mutter sogar noch zwei weitere Male besuchen und kaufte den halben Gefängnisladen auf, um mir wenigstens Snacks und das Nötigste dazulassen, wenn er mich schon nicht nach Hause mitnehmen konnte. Am letzten Tag vor seiner Abreise, nachdem er mich besuchen kam, erhielt ich seinen ersten Brief. Das war der erste Brief von vielen und jener, der mich während der nächsten zwei Jahre über Wasser gehalten hat. Als wir uns hinter der Glasscheibe zum letzten Mal sahen und uns verabschiedeten, brach ich innerlich zusammen. Ich holte den Stift und das Heft hervor, das er mir gekauft hatte, und fing gleich, als ich wieder in meine Zelle kam, mit dem Schreiben eines Tagebuchs für ihn an.

      Die darauffolgenden Wochen waren noch düsterer als alles andere zuvor. Ich war der wandelnde Tod. Ich wusste die erste Zeit weder wer ich war, noch wie ich diese Zeit überstehen sollte. Jeder Tag, den ich abermals hinter Gittern aufwachte, bestärkte mein Gefühl nur noch mehr, sterben und nie wieder aufwachen zu wollen. Das schwarze Loch, das sich bereits seit meiner Verhaftung unter meinen Füßen aufgetan hatte, wurde nur noch größer und zog mich tiefer in seine Materie hinein. Ich hatte weder eine Identität noch den Willen, weiterzumachen. Ich befand mich in einem leeren, schwarzen Loch des endlosen Nichts.

      Damals wusste ich nicht, dass diese vollkommene Selbstaufgabe der Beginn war, meine wahre Essenz erst wirklich in ihrer ganzen Tiefe zu erfahren. Dieses neue Erwachen breitete sich in mir eines Tages im Gottesdienst aus, nachdem ich monatelang ohne jegliches Gefühl für mich herumirrte. An diesem besagten Tag allerdings drang neues Leben in mich. Ich gab mich, mein selbstsüchtiges Ich, auf und mich demütig einer Kraft hin, die so viel größer war, als ich es jemals erahnen konnte. Ich spürte auf einmal, dass ich nicht mehr allein war und dass neues Leben in mich eingehaucht wurde. Ein Leben, das mir eine Kraft verlieh, von der ich getragen wurde und die mich wissen ließ, dass ich nicht vergessen und nicht verlassen wurde. An diesem Tag änderte sich etwas in mir und ich entschied mich dazu, weiterzuleben. Ich hatte die erste Todesphase durchgestanden und erwachte zu neuem Leben.

      Hier gibt es nichts, was mich davon abhalten könnte, einfach im Hier und Jetzt zu sein. Es werden keine Erwartungen an mich gestellt, derer ich nicht sowieso schon gerecht werde. Es bestehen keine von außen auferlegten Rollen, die eine Projektionsfläche über mich stülpen, die nichts mit mir zu tun haben. Einen Verlust der Freiheit kann ich nur erleiden, wenn ich den freien Raum in mir verlasse, indem ich mich in den Fesseln meines Geistes verliere, der mir etwas vorspielt, was nicht wirklich ist.

      Was macht es schon, dass ich mit meinem physischen Körper nicht überall hingehen kann. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, den ich nicht schon gesehen habe. Denn wo immer ich mich aufhalte, ich sehe die Welt durch die Filter, die schon seit jeher Teil meines Repertoires sind. Ich kann durch die Augen der Traurigkeit, durch die Augen der Schönheit, durch die Augen der Liebe, durch die der Freude, der Einsamkeit und durch viele mehr sehen, je nachdem, welchen Gemütszustand ich wähle, während ich mich an diesem oder jenem Ort aufhalte. Es spielt für mich keine Rolle, wo ich bin, denn mein Zuhause liegt in meinem Inneren. Es ist jener Platz in meinem Herzen, in dem Frieden herrscht. Sanft wiege ich mich in den Wellen der Leere, die mich zu neuen Ufern tragen, die ich meinte im Außen suchen zu müssen, die aber nirgends zu finden sind außer in meinem Inneren.

      Es gibt in dieser Welt da draußen so vieles, was uns von der Wahrheit, dass alles, was wir dort suchen, bereits in unserem Inneren vorhanden ist, ablenken möchte. Ich kann also einfach hier im Korridor am Ende meines Trakts sitzen und die frische Brise genießen, die sanft meine Haut umschmeichelt und kühlt, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen. Vor meiner Inhaftierung war ich viel zu sehr damit beschäftigt, dieses oder jenes zu tun, weil so viele Verpflichtungen nach mir verlangten, dass ich dabei ganz vergessen habe, dass es nichts gibt, was ich dafür tun kann, um die Liebe und den Frieden zu finden, außer mich einfach meinem Atem hinzugeben, der mich durch den Schmerz in die Leere führt, inmitten derer der Frieden ruht, der mir zur Freiheit verhilft. Ich kann keine Freiheit im Außen erlangen, weil der einzige Weg, sie zu finden, durch die Akzeptanz dessen führt, was ist.

      Indem ich akzeptiere, was sich in meinem Leben an äußeren Umständen und Reaktionen zeigt, erlaube ich mir anzukommen, wo immer ich gerade bin. Das ist genug! Mehr braucht es nicht. Sobald ich den Schritt der Akzeptanz getan habe, kann der Frieden nachkommen.