Angela Pointner

Aufwind


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Dauer der Pandemie immer mehr Zweifel auf. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden angezweifelt, Verschwörungs­theorien begannen zu kursieren … Doch wir wollen hier keine Corona-Diskussion vom Zaun brechen, sondern vielmehr beispielhaft erläutern, dass es für eine persönliche Veränderung eine gewisse Einsicht braucht.

      Warum sprechen wir an dieser Stelle nicht von Veränderungswillen? Weil dieser Begriff im Zusammenhang mit schweren Lebenskrisen einen zynischen Beigeschmack bekommt. Als hinge es allein von unserem »Willen« ab, ob wir von Krankheit, Tod oder finanziellem Ruin verschont bleiben. Menschen in ausweglosen Situationen fehlt oft schlicht die Möglichkeit, etwas zu verändern, und wir wollen gar nicht in die Nähe davon geraten, jemandem deshalb den Willen dazu abzusprechen. Zudem haben wir beide am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, seine Fähigkeit und zu einem großen Teil seinen Willen zur Anpassung durch Krankheit zu verlieren. Depressiv zu sein bedeutet nicht, ständig traurig zu sein, wie landläufig oft gemutmaßt wird. Eine Depression wirkt sich körperlich und seelisch aus, raubt einem jegliche Kraft und Perspektive (doch dazu später mehr).

      Veränderung und Anpassung gelingen dann am schnellsten, wenn man keine Alternative mehr hat. Bei einem einschneidenden traumatischen Lebensereignis hat man keine Wahl. Als unsere Tochter nach ihrem Suizidversuch auf der Intensivstation lag, mussten wir unseren Alltag nach dieser neuen Situation ausrichten. Wir besuchten Nina jeden Tag, wobei es nur sehr reglementierte Möglichkeiten dazu gab. Wir organisierten die Betreuung der jüngeren Kinder, sagten Arbeitstermine ab, holten uns mentale Hilfe bei ÄrztInnen und TherapeutInnen, um diese dramatische Zeit durchzustehen. Gemeinsam fühlten wir uns bei den Besuchsterminen am sichersten, denn jeder Tag, jede Stunde konnte eine neue Hiobsbotschaft für uns bereithalten.

      Dennoch wurde nach den ersten Wochen klar, dass wir so nicht weitermachen konnten. Unsere anderen Kinder brauchten uns ebenfalls als Eltern, gerade in dieser schweren Zeit. Und zwar nicht nur am Abend oder zwischen den Klinik­terminen, sondern den ganzen Tag über. Sie brauchten uns nach der Schule, bei gemeinsamen Unternehmungen oder für den ganz normalen Alltag. Wir organisierten uns also als Familie ein weiteres Mal neu, teilten die Besuchstage bei Nina auf, wobei auch ihre Großmutter einen Tag fix und Freundinnen oft einzelne Tage übernahmen. So konnten wir für alle unsere Kinder da sein, sowohl als Elternpaar als auch einzeln. Wir waren uns bewusst, dass diese Veränderung notwendig war, und wir hatten auch die Möglichkeit dazu. Weil wir Unterstützung hatten, weil wir es uns finanziell leisten konnten, weil wir uns den beruflichen Alltag selbst einteilen konnten, weil wir keine lange Anfahrt zur Rehaklinik auf uns nehmen mussten. Wir waren uns dessen bewusst und dankbar dafür. Manch andere Familie hätte diese Möglichkeit der Veränderung wohl nicht gehabt.

      Doch nicht nur im Tun, auch im Denken liefen weitere Anpassungsleistungen ab. Obwohl wir uns damals hinsichtlich der Krankheit Depression bereits erfahren glaubten, war uns das Schlimmste passiert. Unser ältester Sohn und Alex selbst hatten diese Krankheit bereits überwunden gehabt und waren wieder gesundet. Als unsere Tochter ebenfalls eindeutige Symptome einer Erkrankung zeigte, hatten wir schnell reagiert und psychiatrische Hilfe geholt. Dennoch war das Thema Suizid an sich ein Tabu geblieben. Wie sich nun dieser neuen Realität stellen? Das Schrecklichste, das, woran zu denken man sich stets verboten hatte, war geschehen.

      Wir hätten das Thema Suizid auch weiterhin als Tabu verschweigen, Ninas Zustand mit einem Unfall erklären und uns vor der Wahrheit verstecken können. Doch es war uns wichtig, unseren Zugang zu diesem schwierigen Thema zu verändern. Es wurde uns bewusst, dass eine Veränderung lebenswichtig sein kann. Bis zu Ninas Suizidversuch waren wir der Meinung, wir dürften das Thema ja nicht erwähnen, um unsere Tochter nicht auf die Idee zu bringen, sich in ihrer Ausnahmesituation etwas anzutun. Auch bei unserem Sohn hatten wir das direkte Ansprechen damals vermieden, waren aber froh, dass es die Ärztin in der Klinik für uns übernahm. Heute wissen wir: Niemand, der an Depressionen leidet, wird durch das Ansprechen von Suizidgedanken erst auf die Idee gebracht. Im Gegenteil: Suizidgedanken kommen von ganz alleine, und ein Ansprechen kann für den Betroffenen eine enorme Erleichterung, ja mitunter lebensrettend sein.

      Wie es uns als Eltern gelungen ist, Worte für das bis dahin Unaussprechliche zu finden, haben wir ausführlich in unserem Buch »Mut zur Klarheit« beschrieben. Das Geschehene nicht nur in der akuten Situation zu meistern, sondern auch langfristig positiv in sein Leben zu integrieren – darum wird es in den nächsten Kapiteln dieses Buches gehen. Anpassung verstehen wir in diesem Zusammenhang als eher kurzfristige Reaktion auf einen äußeren Umstand, während sich das Veränderungsbewusstsein auf eine längerfristig angelegte Beeinflussung der persönlichen Situation bzw. des persönlichen Erlebens bezieht.

      Als Eltern waren wir in der Lage, unseren Schicksalsschlag so zu meistern, dass wir während Ninas Wachkoma allem gerecht wurden, was uns damals wichtig war: Wir kämpften um Ninas Genesung, waren für unsere anderen Kinder da, gingen offen mit den Themen Depression und Suizid um, holten uns professionelle psychologische Hilfe, organisierten die beruflichen Belange so, dass sie mit den familiären Umständen vereinbar waren, und sorgten nicht zuletzt für persönlichen Ausgleich in Form von Sport und Kultur. Nach Ninas Tod ließen wir uns auf den Prozess des Trauerns ein und suchten gleichzeitig nach einem Weg, wieder in ein »normales« Leben hineinzufinden – ohne Klinikalltag und Überlebenskampf. Wir konnten beide das, was uns zugestoßen war, gut in Worte fassen: in persönlichen Gesprächen, bei Vorträgen, bei Interviews und auch in unserem zweiten gemeinsamen Buch. Unser Umgang mit dieser schweren Lebenskrise war und ist bis heute für viele Menschen vorbildhaft. Es tat gut zu hören, wie stark wir seien und wie gut wir das alles gemeistert hätten.

      Vieles von dem, was wir hier bis jetzt beschrieben haben, würden ExpertInnen wohl unter dem Fachbegriff »Resilienz« zusammenfassen. Oft vereinfacht als psychische Widerstandskraft bezeichnet, hat uns unter den vielen in Facetten unterschiedlichen Definitionen von Resilienz diese am meisten angesprochen:

      Resilienz (von Lateinisch resilire, »zurückspringen«, »abprallen«) oder psychische Widerstandsfähigkeit ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.

      Resilienz war auch während des Corona-Lockdowns in aller Munde. Auf allen Medienkanälen wurden Tipps gegeben, wie mit dieser völlig neuen Situation am besten umzugehen ist. Gleichzeitig war auch viel von einer sich verändernden Gesellschaft die Rede: Allgemeine Werte würden sich durch diese Krise verändern zu mehr Nachhaltigkeit und mehr Solidarität. Ob dem so ist, werden erst die nächsten Monate oder vielleicht sogar Jahre zeigen.

      Was aber für uns ganz klar war, ist, dass es sehr von der jeweiligen sowohl persönlichen wie wirtschaftlichen Ausgangslage abhängt, wie gut man eine Krise wie diese bewältigt. In einem Haus mit Garten lässt es sich während der Quarantäne besser aushalten als in einer engen Wohnung ohne Balkon. Wer in der Vergangenheit Geld auf die Seite legen konnte, kann wirtschaftliche Einbußen leichter wegstecken als jemand, der jeden Cent umdrehen muss, um über die Runden zu kommen. Wer bereits Schlimmeres erlebt und dies gut überstanden hat, wird sich von Corona womöglich wesentlich weniger aus der Ruhe bringen lassen. Wer gelernt hat, wie er seine mentale Gesundheit stärkt, kann auch in Ausnahmesituationen auf diese Fähigkeiten zurückgreifen.

      Warum wir uns dennoch nicht auf den Begriff Resilienz beschränken möchten, hat damit zu tun, dass wir das, was nach einer lebensverändernden Krise zur weiteren Lebensbewältigung notwendig ist, als viel komplexer und umfassender begreifen. Zudem klingt der Begriff sperrig und sagt für viele auf den ersten Blick wenig aus. In unseren Augen muss die kognitive Komponente, die bei der Resilienz oft im Vordergrund steht, um die körperliche und die emotionale Ebene erweitert werden. Wir selbst haben nach Meinung begleitender ExpertInnen in unserer Ausnahmesituation große Resilienz bewiesen, waren für viele ähnlich Betroffene Vorbilder.

      Doch wie nachhaltig unsere Fähigkeit zur Anpassung ist, sollte sich erst in den Jahren nach Ninas Tod zeigen. Denn in Wahrheit begann für unsere Familie nach der Phase der allumfassenden Trauer bereits die nächste schwere Krise. Die Nachwehen des akuten Schicksalsschlages waren so massiv, so einschneidend, dass niemand in unserer (Kern-)Familie einfach zur Tagesordnung übergehen hätte können. Die »neue Normalität« – in Corona-Zeiten zum geflügelten Wort für eine Zeit der