Johann Gottfried Herder

Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang


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Deutungen in Mythologie, Philosophie, Poesie und Kunst wurden unter den Griechen aus ihren verschlossenen Kammern auf offnen Markt getragen, und Schönheit fieng an, das Hauptgesetz der Poesie und Kunst, nur bei jeder auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn eines himmlischen Genius, ward der Vater schöner Dichter und schöner Künstler: und glücklich ist das Land, dem in der sinnlichen Poesie und der noch sinnlichern Kunst, der Geist seiner Zeit in Religion und Sitten und Gelehrsamkeit und Cultur so wenig Zwang auflegt, als Griechenland in seinen schönsten Zeiten. Ich wundre mich, daß Winkelmann in seinen Schriften diese Abstreifung fremder, alter, Allegorischer Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer Nutzbarkeit gezeiget hat: es ist ein Hauptknoten in dem Faden der Kunstgeschichte: »wie die Griechen so manche fremde drückende Ideen in die ihnen eigne schöne Natur verwandelt haben!«

      Von hieraus gienge der sicherste Weg, um zwischen inne durch Bedeutung und Schönheit, durch Allegorie und Schönheit der Kunst und Poesie unbeschädigt durchzukommen: ich würde aber mit einmal zu tief in den Unterschied der dichtenden und bildenden Kunst tauchen müssen – also zurück zu unsern Prolegomenen.

      VIII.

       Inhaltsverzeichnis

      Wenn Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Kunst ist: freilich, so muß Laokoon nicht schreien, sondern lieber nur beklemmt seufzen: denn wenn schon Sophokles zu seinem Theatralischen Auftritt einen brüllenden Philoktet eben so ungereimt fand, als Leßing den stoischen Philoktet findet: wie viel mehr der Künstler, bei welchem ein Seufzer und ein Schrei des offnen Mundes ewig dauret.

      Quintus Calaber ist ein später Schriftsteller, ein übertreibender Dichter, ein seyn wollendes Original – mehr Umstände braucht es nicht, ihm bei dieser Sache den Zutritt eines Zeugen strittig zu machen. Er dichtet bei seinem Laokoon so weit in die Welt hinein, daß die Dichterische Fabel kaum mehr Fabel bleibt: sie wird ein abentheuerliches Riesenmährchen. Warum muß unter dem warnenden Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die List der Minerva fallen soll; was brauchts die ganze Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum müssen seine unschuldigen Augen verblinden? warum muß er rasen? Etwa um noch blind und verstockt fortzufahren in seinem Rathe, und also als ein trotzender Gigante gegen die Götter zu erscheinen? – Etwa weiter durch diesen verstockten Rath noch erst die neue Verbrecherstrafe der Drachen zu verdienen – Was brauchts den gutgesinneten Patrioten erst in einen Himmelsstürmer, in einen tollen Verbrecher umzuschaffen, und nachher gar – Unschuldige für ihn leiden zu lassen? Laokoon selbst geschieht nichts von den Drachen: seine armen unschuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleischt, – abentheuerliche, abscheuliche Scene, ohne Wahl und Zweck, ohne Zusammenordnung und dichtenden Verstand!

       hîc aliud maius miseris multoque tremendum

       obiicitur magis atque improvida pectora turbat.

       Laocoon – –

      In Homer sind alle Griechen schon, in Erwartung: rings um eine Quelle gelagert, mit dem Opfer an die Unsterblichen beschäftigt, und also in der Fassung, auf ein himmlisches Zeichen zu merken, so bald es erschiene. Bei Virgil ist alles unstät, zerstreut, auf den Griechischen Betrüger horchend, und nicht auf Laokoons Opfer; die Schlangen erscheinen, und was für ein Geräusch, was für ein Plätschern im Meer müssen sie machen, ehe sie bemerkt werden. »Zwo Schlangen kommen von der Höhe des Meers herab: in ungeheure Ringe geschlungen, (mich schaudert es zu sagen!) liegen sie auf der See und streben gemeinschaftlich ans Ufer. Mitten aus den Fluthen hebt sich ihre Brust empor: über die Wasser ragen ihre Blutrothen Kämme: ihr übriger Körper ist mit der langen Oberfläche der See gleich, und krümmt seinen unmäßlich langen Rücken in Ringen heran. Es entsteht ein Geräusch bei schäumender See, und schon sind sie am Ufer: ihre Augen funkeln, ihre Zungen züngeln, zischen« – welch entsetzlich lange Vorbereitung, so Episch, so Malerisch, daß