bin ich doch zum Schluss gekommen, dass für Helga die Adoption das einzig Richtige ist. Da es für mich ein schwerer Entschluss ist, lege ich Ihnen die gute Wahl der künftigen Eltern Helgas besonders ans Herz. Auf jeden Fall will ich Helga allein im Kinderheim abholen und sie nachher mit Ihnen nach Rapperswil bringen“, schrieb meine leibliche Mutter an die Adoptionsvermittlungsstelle.
Zu jenem Zeitpunkt erhielt ich einen Vormund, der von nun an auch über das Schicksal meiner Platzierung zu entscheiden hatte. Er gab die Einwilligung zur Durchgangspflege bei einer Familie in Brunnen, bei welcher ich für zirka zwei Wochen untergebracht war. Ich war damals noch zu klein, um mich an diese Familie zu erinnern. Erst vor einem Jahr, als ich alle meine Akten zum ersten Mal sichten konnte, erfuhr ich von diesem Detail. Die Adoptionsvermittlungsstelle hatte dem Vormund als künftige Adoptiveltern eine Familie Giacometti aus Lugano vorgeschlagen. „Wir glauben, dass das dunkelhaarige rassige Maiteli sehr gut in den Tessin passen würde“, schrieb die Adoptionsvermittlungsstelle dem Vormund. Ich musste wirklich schmunzeln, als ich das vor einem Jahr zum ersten Mal las. Nota bene: Ich war zu jenem Zeitpunkt vier Wochen alt!
Meine künftigen Adoptiveltern hatten sich im März 1958 bei der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch gemeldet und im Juni des gleichen Jahres sind sie zu einem Gespräch nach Rapperswil gereist, das folgendermaßen protokolliert wurde:
„Herr und Frau Giacometti interessieren sich sehr dafür, ein Kindlein zu erhalten. Ihr Wunsch geht eindeutig darauf hin, ein Meiteli aufzunehmen, und zwar ein kleines. Frau Giacometti ist eine junge, ausgesprochen hübsche Frau, blond mit blauen Augen, sehr gepflegt. Trotz ihrer grossen Jugendlichkeit, auch im Aussehen, scheint sie recht tüchtig. Sie hilft ihrem Mann, der eine Filiale der Lindt & Sprüngli, Kilchberg, leitet, im Büro. Sie kann das gut neben ihrem Haushalt machen und macht es auch sehr gerne. Sie hat ihren Mann bei Lindt & Sprüngli, wo sie als Sekretärin arbeitet, kennengelernt. Herr Giacometti scheint zuerst ein typischer Tessiner, ist in Rom aufgewachsen, kommt aber aus einer sehr alt eingesessenen Bergellerfamilie. Er selbst möchte nicht ein Kindlein, das aus italienischer Abstammung kommt, oder den südländischen Typus hat. Für sein Alter scheint Herr Giacometti sehr jung. Man spürt dass er seine Frau sehr gerne hat und wünscht auch baldmöglichst ein Kindlein aufzunehmen. Schon wegen seines Alters meint er, sei es wichtig, dass sie nicht solange warten müssen. Bereits sein sie zwei Jahre verheirate und nach ärztlicher Auffassung, besteht nicht eine grosse Möglichkeit, dass sie ein Kind bekommen. Würde trotzdem eines eintreten, könnte sie dieses eine Kind niemals hergeben. Herr Giacometti orientiert sich auch über die Rechtsfragen und ist froh, dass er bald adoptieren könnte.“*
Im August 1958 folgte dann ein Hausbesuch in Lugano. Durch die Akten erfuhr ich folgendes darüber:
„Die Ehegatten Giacometti wohnen am Fusse des Monte Bré. Die Wohnung ist sehr geräumig, grosse Zimmer. Neubau. Helle, mit grossen Fenstern versehene Räume, die recht deutschweizerisch eingerichtet sind. Frau Giacometti erklärt, dass sie im Tessin nichts gefunden hätte, das ihr zugesagt habe. Die Wohnung ist blitzblank sauber und in sehr guter Ordnung. Doch hat man gar nicht das Gefühl, Frau Giacometti verbringe ihre ganze Zeit auf so prosaische Weise. Sie ist sehr aufgeschlossen und lebhaft, gesprächig. Herr Giacometti kommt von der Arbeit. Das Depot befindet sich gerade gegenüber. Auch er macht gleich einen sehr freundlichen Eindruck, ist lebhaft, nimmt gleich regen Anteil am Gespräch mit seinem gebrochenen Deutsch. Man kann sich die beiden sehr gut als Eltern vorstellen.“
Noch im selben Monat wurde meinen späteren Adoptiveltern ein „entzückendes Kindlein“ aus Aarau vorgeschlagen. Wie mir meine Mami später erzählte, fühlte sie sich überrumpelt. Es ging ihr alles zu schnell und sie war noch nicht so weit eingerichtet, um ein kleines Kind aufzunehmen. Aus diesem Grund lehnte sie das Angebot ab. Wenn man bedenkt, dass heutige Adoptiveltern Jahre warten müssen, bis ihnen ein Kind zugesprochen wird! Bereits zwei Monate später wurde meinen künftigen Adoptiveltern erneut ein Kind vorgeschlagen: Das war ich! Innerhalb kürzester Zeit kam die Einwilligung der Amtsvormundschaft Wil:
„Sehr geehrte Fürsorgerin. Ich bin im Besitze Ihrer Zuschrift vom 24.11.1958 und beziehe mich auf den gestrigen telefonischen Anruf. Ich möchte mit diesem, und nach Einsicht der Unterlagen bestätigen, dass ich mit der vorgesehenen Unterbringung des a. e. Kindes Helga Oertli in die Familie Giacometti Lugano-Cassarate, mit der Absicht einer späteren Adoption einverstanden bin. Ich nehme an, es handle sich um eine unentgeltliche Uebernahme der Pflege und Erziehung des Kindes und dass hierüber eine schriftliche Vereinbarung mit den Pflegeeltern über das Pflegeverhältnis getroffen wird, worin auch die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Adoption im Sinne des Art. 267 ZGB erwähnt werden. Ich sende Ihnen die mir übersandten Unterlagen mitfolgend zurück und verbinde damit meinen besten Dank für Ihre Bemühungen“,
schrieb der Amtsvormund im November 1958. Bei der Auswahl der Adoptiveltern war wohl damals das wichtigste Kriterium, dass sie sich in einer guten finanziellen Lage befanden. Die Gemeinde wollte nicht mehr für dieses Kind aufkommen müssen.
So rasch und oberflächlich wurden damals die Abklärungen betreffend einer Eignung zur Adoption getroffen. In meinem Dossier fand ich noch zwei Empfehlungsschreiben von Bekannten und sowie vom Arbeitgeber meiner zukünftigen Adoptiveltern. Innerhalb von nur zwei Monaten waren die Vorabklärungen abgeschlossen. Sicher gab es zu jener Zeit viel mehr Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden als heute, aber es scheint ganz so, als wären die Adoptiveltern nur rudimentär auf ihre Eignung geprüft worden. Da stellen sich mir etliche Fragen: War es den zukünftigen Adoptiveltern damals bewusst, dass es nicht dasselbe sein wird, ein „fremdes“ Kind anzunehmen, wie sein eigenes Kind großzuziehen? Waren sie psychisch in der Lage, sich um ein eventuell traumatisiertes Kind zu kümmern? Hatten sie die Fähigkeit, für ein Pflegekind die richtige Betreuung, das Verständnis und die Geduld aufzubringen? Hatten sie genügend Feingefühl und Empathie, um auch schwierige Zeiten zu überstehen? Waren sie genügend charakterlich gefestigt? Wussten sie, was es bedeutet, ein Kind aufzunehmen, dessen Anlagen man nicht kennt? Und was tun, wenn es in der Schule völlig versagen würde oder in der Pubertät einen riesigen Absturz erleiden würde? Das sind alles Ereignisse, die bei einem Adoptivkind häufig auftreten können, häufiger als bei leiblichen Kinder. In dieser Hinsicht wurde offensichtlich viel zu wenig abgeklärt. Aber das gehörte zu jener Zeit, die Adoptionsverfahren und die Erkenntnisse über die Psychologie eines Adoptivkindes und damit verbundene Schwierigkeiten haben sich über die Jahre erst entwickelt. Zudem gab es in den 1960er-Jahren noch nicht so detaillierte Ratgeber zum Thema Kindererziehung, keine über Pflegekinder. Zu jener Zeit wurden Kinder noch autoritär und mit eiserner Disziplin erzogen, auch wenn mittlerweile Stimmen pro antiautoritären Erziehungsstil lauter wurden. Es war nicht üblich, sich als Erwachsene in die fragile Seele eines heranwachsenden Lebens hineinzuversetzen. Empathie gehörte nicht zu den expliziten Erziehungszielen.
Heute müssen sich willige Adoptiveltern auf einer langen Liste von wartenden Eltern hintanstellen und sich über Jahre darum bemühen, ein Kind zu bekommen. Immer wieder folgen für die zukünftigen Adoptiveltern zahlreiche Tests und Gespräche, zudem ist durch sie schriftlich genau zu begründen, weshalb sie ein Kind aufnehmen möchten. Entsprechende Kurse sind auch Pflicht.
Mitte November 1958, als ich etwa sechs Wochen alt war, teilte meine leibliche Mutter der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch mit, dass sie froh wäre, wenn das Kind durch die Mitarbeiter abgeholt werde und bat darum, das dem Kinderheim entsprechend zu berichten. Eigentlich hatte meine Mutter zuerst gesagt, dass es ihr wichtig gewesen wäre, mich persönlich abzuholen. Was war wohl der Grund dieses Wandels? Brachte sie es nicht übers Herz, mich nochmals zu sehen und dann wegzugeben? Das wissen nur die Sterne. So holte mich die Fürsorgerin in St. Gallen ab und protokollierte:
„Helga scheint ein dunkelhaariges, nicht unsympathisches Kindlein zu sein. Seine Äugelein zeigt es allerdings auf dem ganzen Weg nicht und schläft immer. Es hat eher ein rundes Gesichtlein, und ein tiefes Grübchen im Kinn. Sie soll ein sehr liebes Kind sein, nur wenn ihr etwas nicht passt, schreie sie los, wie kein zweites.“
Aus den Akten erfahre ich ein letztes Mal etwas über meine leibliche Mutter:
„Sie erkundigt sich, wie es der Kleinen geht und ob sie eventuell ein