Ausschweifungen.22
Auch jene, die sich selbst zuerst und zuvorderst als Christen verstanden, schrieben ein Narrativ fort, das die Rassifizierung prägte. Die Kreuzritter, bemerkt Heng, trugen ihre Verbindung zu Christus auf dem Banner, wobei sie sich selbst als »christliche race« betrachteten und definierten. Der Schritt von der Rassifizierung durch Religion zum othering aufgrund der Hautfarbe fand auch in der Literatur statt. Heng führt mit dem mittelenglischen Ritterroman The King of Tars ein vielsagendes Beispiel dafür an. In der Geschichte wird eine hellhäutige Prinzessin gezwungen, zum Islam zu konvertieren und einen muslimischen König zu heiraten. Das aus dieser Verbindung entstandene Kind entpuppt sich als ein Monster, das erst durch die Taufe gerettet und körperlich verwandelt wird. Der als Schwarz bezeichnete Vater wird nach der Taufe ebenfalls weiß und beschließt, seine Untertanen ebenso bekehren zu lassen.23 Interkulturelle Heiraten waren keine rein fiktive Praxis. Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurden Ehen zwischen weiblichen europäischen christlichen Adligen und muslimischen Königen weniger üblich. Christliche Sklavinnen wurden jedoch noch immer in Harems gehalten, und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, dass fünf der Nasridensultane von Granada versklavte Christinnen als Mütter hatten. Die meisten dieser Frauen waren entweder während islamischer Eroberungen versklavt oder durch einen Sklavenhändler verschleppt worden, der speziell nach Frauen mit weißer Haut Ausschau hielt.24 Die Händler kamen aus verschiedensten Regionen: Die Wikinger versklavten und verkauften irische Menschen, die Engländer verkauften Menschen an die Franken, und die Venezianer handelten mit Menschen aus Zentraleuropa. Einige dieser versklavten Menschen landeten in den Regionen entlang des Mittelmeers, und eine große Anzahl von ihnen wurde nach Ägypten gebracht.25 Die Vorstellung von Afroeuropäern erhält also eine andere Bedeutung, wenn wir die Herkunft und die Bewegungslinien aller Personen dieser Gruppe bedenken.
In derselben Periode lieferten die Europäer auch Jungen, die ursprünglich aus Zentraleuropa, Eurasien und dem Kaukasus stammten, an die islamischen Herrscher. Die auf diesem Wege Verschleppten wurden dazu erzogen, sich den Streitkräften anzuschließen, die hauptsächlich aus versklavten Personen bestanden. Die von ihnen gebildete Truppe war bekannt als Mamluken. Im Laufe der Zeit stiegen sie zu Mitgliedern einer elitären Gruppe auf, die ihre eigenen Mamluken kaufen und Sklavinnen heiraten konnten, welche aus ihrem Heimatland kamen oder wiederum Töchter von Mamluken waren, wodurch sie eine »militärische race« erschufen.26 Heng demonstriert, in welchem Umfang das vormoderne Ägypten von muslimischen tscherkessischen Mamluken bestimmt wurde. Innerhalb weniger Jahrhunderte wurden sie zu den Herrschern Ägyptens und setzten eine strenge Trennung durch zwischen ihnen selbst, als eine einzigartige Kategorie von Menschen aus dem Kaukasus, und anderen ethnischen Gruppen, wobei Ehen über diese ethnischen Grenzen hinweg verboten waren. Die Nützlichkeit der Mamluken war unbestreitbar. Sie waren ethnisch unterscheidbare, skrupellose Krieger, deren Präsenz im neuzeitlichen Ägypten gefördert wurde. Reisende aus dem 15. Jahrhundert liefern Berichte über in Kairo lebende Mamluken aus Ungarn, Deutschland und Italien.27 Allerdings verwischten die Mitglieder dieser Gruppe durch ihre bloße Existenz die rassifizierenden Markierungen, die Europäer und Afrikaner größtenteils charakterisieren. Nach heutigen Begriffen waren sie weiße afrikanische Muslime europäischer Abstammung.
Die Mamluken waren nicht die einzigen Soldaten, die Grenzen überschritten und verschiedene Welten beeinflussten. Die Legende des heiligen Mauritius liefert uns eine interessante Linse, durch die wir die menschliche Geografie besser begreifen können. Im 3. Jahrhundert war die römische Präsenz in der Gegend von Theben durch die Eingliederung eroberter Bevölkerungen in die römische Armee gestärkt worden. Ihr Einfluss weitete sich in den Süden aus, und das Erbe jener Ära nimmt verschiedene Formen an. Die Figur des heiligen Mauritius ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Eine der berühmtesten Darstellungen von Mauritius findet sich in Form einer Statue im Dom von Magdeburg. Die Statue stammt aus dem 13. Jahrhundert, lange nach der Lebenszeit des heiligen Mauritius im 3. Jahrhundert.
Zu begreifen, wie Mauritius als Heiliger bekannt wurde, wirft ein Licht auf die Herausbildung der europäischen Hagiografie. Außerdem liefert es uns interessante Informationen über den Platz, den Heilige in der mittelalterlichen Kunst einnahmen. Die Geschichte des heiligen Mauritius wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Über die Jahrhunderte erreichte er den Status einer Legende, dennoch kennen Historiker*innen nur sehr wenige Details seines früheren Lebens, ehe er sich den römischen Truppen anschloss. Man geht davon aus, dass Mauritius im Umkreis des heutigen Ägyptens geboren wurde und sich bei der an der heutigen sudanesischen Grenze stationierten Thebaischen Legion meldete. Angeblich wurde er damit beauftragt, als Kommandeur der römischen Truppen einen Aufstand in Gallien niederzuschlagen. Dabei sollte er sichergehen, dass seine Truppen vor der Schlacht ihren Verpflichtungen gegenüber dem Gott Jupiter nachkamen, wie es von allen römischen Soldaten erwartet wurde.28 Zunächst willigte er ein, änderte dann jedoch seine Meinung, weil er sich sträubte, an der Christenverfolgung teilzunehmen. Kaiser Maximian sandte daraufhin Truppen zur Verhaftung von Mauritius und dessen loyalsten Soldaten. Sie alle wurden im Jahr 287 hingerichtet. Die Ursprünge des Heiligen sind Inhalt umfassender Forschungstätigkeiten gewesen. Die meisten Arbeiten betrachten eher die Transformation der Legende im Laufe der Zeit, eine bescheidenere Anzahl von Untersuchungen studiert jedoch auch ihre Grundlage.
Den Ausgangspunkt dieser Geschichte stellt ein um 450 verfasster Brief von Bischof Eucherius von Lyon an einen anderen Bischof namens Salvius dar. Eucherius berichtete von den thebaischen Soldaten, die auf Befehl Maximians in den Alpen ermordet worden seien.29 Die Richtigkeit dieser Darstellung ist jedoch angezweifelt worden. Denis van Berchem weist darauf hin, dass es einen Soldaten namens Mauritius von Apameia gegeben habe, dessen Märtyrertod in Syrien fälschlicherweise mit der Unterdrückung eines Aufstands in Gallien unter Maximians Herrschaft vermischt wurde. Diese Geschichte hätte mit der des Mauritius von Theben verwechselt worden sein können.30 Weitere Erklärungen finden sich in militärhistorischen Werken. Die von Eucherius erwähnte Thebaische Legion könnte in die Irre geführt haben – er schreibt von Thebaei, was der Name einer speziellen italienischen militärischen Einheit im 4. Jahrhundert war.31 Von Eucherius erfahren wir auch, dass die ursprüngliche Geschichte von Theodor stammte, der im späten 4. Jahrhundert Bischof von Octodurum war. Eucherius nahm Theodors Geschichte und machte sie zu seiner eigenen. Historiker*innen vermuten, der Bericht über Mauritius könnte eine von Theodor erschaffene politische Legende gewesen sein, die Menschen dazu ermuntern sollte, gegen Usurpatoren zu rebellieren.32 Eine Verbindung zu Theben (Thebais) wird zumindest durch in Ägypten nahe Syene (dem heutigen Assuan) gefundene Inschriften untermauert, die von thebaischen Soldaten unter dem Kommando eines Mauritius ausgeführte Taten um 367–375 dokumentieren. Es wäre nicht weiter ungewöhnlich, hätte man denselben Mauritius mit seinen Truppen nach Norden in Richtung Osteuropa geschickt. Die Legende von Mauritius verbreitete sich ebenfalls in Richtung Norden und erreichte das Rheintal, wo sie in die dortigen Regionalgeschichten Einzug fand.
Um zu verstehen, wie die Legende nordwärts reiste, müssen wir betrachten, auf welche Weise politische und religiöse Bestrebungen die Geschichte dieses Raums veränderten. Auf die Erosion des Römischen Reiches und die Invasion der römisch regierten Provinzen durch die Goten, die Langobarden und die Franken folgte im Zuge der Thronbesteigung Karls des Großen im Jahr 800 eine Phase relativer Stabilität. Nach Karls Tod wurden seine Territorien in jene Gebiete aufgeteilt, die heute in etwa Frankreich und Deutschland entsprechen. Das Ostreich expandierte in den folgenden dreihundert Jahren bis an die Südspitze Italiens, blieb aber durch Machtkämpfe geprägt, die König Friedrich II. – König von Sizilien, selbsternannter König von Jerusalem und von 1220 an Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – durch Verwaltungsreformen teilweise zu befrieden vermochte. Er bleibt aber auch in Erinnerung als ein kosmopolitischer Monarch, der Juden, Türken, Araber und Afrikaner an seinem Hof willkommen geheißen haben soll. Seine Reise durch die germanische Region des Reiches im Jahr 1235 soll aufgrund der beträchtlichen Anzahl an afrikanischen Soldaten in seiner Armee Aufsehen erregt haben.33 Friedrich ernannte gar den Afrikaner Johannes Morus zum Kämmerer des Königreichs Sizilien.34 Schwarze Musiker, Bedienstete und hochrangige Gäste dürften zu dieser Zeit neben der Legende vom heiligen Mauritius den europäischen Blick auf Afrikaner beeinflusst und neu definiert haben. Die afrikanische Präsenz