Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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respektive Kunstwerk und metonymisch als grundlegendes Prinzip des stark vom Marienmythos geprägten Phänomen des Marianismo lesbar. In der vorliegenden Arbeit soll es folglich nicht nur um das eine, singuläre Santa María in Onettis Gesamtwerk gehen, sondern um eine Vielzahl von Santa Marías und innerhalb dieser um die genderbezogene Darstellung machträumlicher Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion.

      Nach den inhaltlichen Vorüberlegungen sollen nun kurz diejenigen Raumtheorien skizziert werden, die zu oben genannter Beobachtungen geführt und diese Arbeit geprägt haben. Grundlegend war zunächst die Orientierung an Henri Lefebvres Theorie des sozialen Raums, wonach Raum nicht nur als Produkt, sondern gleichzeitig auch als Produzent sozialer Ordnungen zu verstehen ist.12 In den Worten von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann heißt das: „Als Signatur sozialer und symbolischer Praktiken ist Raum kulturell produziert und kulturell produktiv: Der Raum selbst spiegelt demzufolge bestehende Machtverhältnisse wider und verfestigt diese.”13 Raum, und insbesondere der Raum in der Literatur, fungiert in dieser Lesart als „kultureller Bedeutungsträger“, der, so Hallet/Neumann weiter, „[k]ulturell vorherrschende Normen, Wertehierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem“14 konkret veranschaulicht. Diese kulturellen Wertehierarchien und -vorstellungen stehen sich mitunter widersprüchlich gegenüber und bilden dadurch Machtverhältnisse, kulturelle Konflikte oder Formen von Diskriminierung ab. Dementsprechend argumentieren Hallet/Neumann:

      Da in materiellen Räumen heterogene, sogar widersprüchliche Symbolisierungen zusammenlaufen können, ist ihnen stets eine (inter-)kulturelle Vielschichtigkeit eingeschrieben, die dazu geeignet ist, die vermeintliche Homogenität und Hierarchisierung kultureller Ordnungen in Frage zu stellen.15

      Die zitierte Betonung der Machtverhältnisse als Effekte räumlicher Praktiken rekurriert wiederum auf Michel Foucaults relationales Macht- und Raumverständnis. Allerdings fehlt in Foucaults Ausführungen zu raumabhängigen Machtrelationen ein expliziter Geschlechterbezug, sprich: Foucault verwendete in seinen Analysen das generische Maskulinum. Erst eine feministische Rezeption zeigte die gendersensible Anschlussfähigkeit seiner Texte auf und ebnete damit den theoretischen Weg für eine genderkritische Perspektive. Diese wiederum korrespondiert mit einem Postulat der feministischen Humangeographie, welches die Konstruktion von Raum als unbedingt genderabhängig beschreibt.16 Mit ihrem programmatischen Ansatz „geography matters to gender“17 prägte Doreen Massey, eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Humangeographie, die wissenschaftliche Erforschung von Raum-, Macht- und Genderrelationen. Mit implizitem Rückgriff auf Lefebvre schreibt sie:

      The only point I want to make is that space and place, spaces and places, and our senses of them (and such related things as our degrees of mobility) are gendered through and through. Moreover they are gendered in a myriad different ways, which vary between cultures and over time. And this gendering of space and place both reflects and has effects back on the ways in which gender is constructed and understood in the societies in which we live.18

      Massey betont damit die Notwendigkeit, nicht nur Klassenzugehörigkeit, sondern auch das soziale Geschlecht (gender) als feste Analysegrößen in der Humangeographie zu etablieren. Sie verweist auf die Interdependenzen zwischen der sozialen Konstruktion von Geschlecht und unserer alltäglichen Raumwahrnehmung und -gestaltung. Wie sehr die deiktische Funktion von Sprache genderspezifische räumliche Grenzen zu ziehen respektive zu reproduzieren vermag, und inwieweit Machtverhältnisse durch Sprechverbote in bestimmten räumlichen Kontexten geprägt werden, erläutert die britische Mediävistin Mary Beard in Women and Power (2017). Beide genannten feministischen Ansätze sind dem Prinzip der Intersektionalität verhaftet, das wiederum einer herrschafts- und machtkritischen Perspektive Rechnung trägt: Es wird nicht mehr von singulärer (und damit ausschließlicher) Weiblichkeit respektive Männlichkeit ausgegangen, sondern die Pluralität unterschiedlicher struktureller und gesellschaftlicher Abhängigkeiten und Diskriminierungserfahrungen abgebildet, in die jede Person eingebunden ist bzw. die eine Person in einem bestimmten kulturellen oder politischen Kontext erfährt.19 Diesem intersektionalen Ansatz fühlt sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet.

      Dementsprechend lässt sich also konkretisieren: Raum ist in vorliegender Untersuchung als sozial geformtes, kulturell veränderliches Konstrukt zu verstehen, das Machtbeziehungen sowohl abbildet als auch hervorbringt. Die einzelnen Akteur*innen bzw. Figuren werden dabei nicht androzentrisch, d.h. ‚automatisch‘ als männlich verstanden, sondern in Abhängigkeit von ihrem sozialen Geschlecht untersucht. Das in dieser Arbeit angewandte Geschlechter-Verständnis orientiert sich wiederum an R.W. Connells theoretischem Zugang auf dem Gebiet der Men’s Studies.20 In Abgrenzung zu einem überwiegend diskursiv-semiotisch verstandenen Gender-Begriff, wie ihn insbesondere Judith Butler prägte, spricht Connell einerseits von der sozialen Gemachtheit von Geschlecht, betont jedoch gleichzeitig auch die Bedeutung körperreflexiver Praktiken für dessen Darstellung:21

      Through body-reflexive practices, bodies are addressed by social process and drawn into history, without ceasing to be bodies. They do not turn into symbols, signs or positions in discourse. Their materiality (including material capacities to engender, to give birth, to give milk, to menstruate, to open, to penetrate, to ejaculate) is not erased, it continues to matter. The social process of gender includes childbirth and child care, youth and aging, the pleasures of sport and sex, labour, injury, death from AIDS.22

      Unter körperreflexive Praxen fasst Connell dezidiert auch reproduktive Fähigkeiten und Vorgänge. Sie spricht von der „reproductive arena“23 als sozialem Ordnungsprinzip. Nach Connell strukturiere der Reproduktionsbereich, einschließlich körperreflexiver Praktiken wie sexueller Erregung oder Zeugung sowie der Organisation von Fürsorge-Aufgaben maßgeblich die Geschlechterverhältnisse und konstituiere damit auch die spezifischen Machtrelationen zwischen Männern und Frauen.24

      Für die vorliegende Arbeit lässt sich aus diesen schlaglichtartig skizzierten Vorüberlegungen eine Reihe von Forschungsfragen formulieren:

       Wie wirken die geschlechtsspezifischen, reproduktiven (Un-)Fähigkeiten der Figuren auf die gesellschaftliche und räumliche Ordnung Santa Marías und

       in welcher Weise prägt der Raum selbst das Feld der Reproduktion und

       damit die Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse?

       In welchem geschlechterspezifischen Verhältnis stehen biologische Reproduktion und künstlerische Produktion und

       inwieweit spiegelt sich dieses Spannungsfeld in den dargestellten Männlichkeiten respektive Weiblichkeiten wider?

       Wie verhält sich der durch den Namen Santa María evozierte Marienmythos in Bezug auf die dargestellten Geschlechterverhältnisse innerhalb des männlich dominierten Onetti’schen Erzählkosmos und

       welche biopolitischen Diskurse lassen sich daraus für die analysierten Werke ableiten?

      Diese Forschungsfragen implizieren, wie bereits im Titel der Arbeit anklingt, dass innerhalb des Onettti’schen Gesamtwerks und insbesondere innerhalb der ausgewählten Texte, eine konfliktive Beziehung zwischen Reproduktion und Produktion vorherrscht und dass dieses Spannungsverhältnis in genderspezifische, machträumliche Parameter eingebunden ist. Mit dieser Arbeitshypothese begegnet die vorliegende Untersuchung einem im Folgenden noch näher auszuführenden Forschungsdesiderat, insofern der Analysefokus auf den schöpferischen, hervorbringenden Fähigkeiten der Frauenfiguren liegt und diese unter machträumlichen Implikationen und als selbstbestimmte Handlungen zu männlicher Schöpfungspotenz in Beziehung gesetzt werden.

      Die Forschungsarbeiten, die sich bislang unter dezidiert genderspezifischen Fragestellungen mit Onettis Texten auseinandergesetzt haben, reproduzieren einen heteronormativen Machtdiskurs, der Männern Handlungsmacht zugesteht und Frauen als Katalysatoren dieser Handlungen begreift. So beschreibt etwa Elena M. Martínez den narrativen ‚Wert‘ der Frau hauptsächlich über deren Nutzen für die männlichen Figuren, sei es „en términos de la producción narrativa [o de] la gratificación sexual“25. Die vorliegende Arbeit weist, wie bereits die oben formulierten Forschungsfragen verdeutlichen, weit über diesen Forschungsdiskurs hinaus, indem sie die