Hefte wuchsen immer stärker [121]an, und in weniger als einem Jahre besaß er eine vollständige Dogmatik mit allen Beweisstellen aus der Bibel, und einer vollständigen Polemik gegen Heiden, Türken, Juden, Griechen, Papisten und Reformierten, verknüpft – er wusste von der Transsubstantiation im Abendmahl, von den fünf Stufen der Erhöhung und Erniedrigung Christi, von den Hauptlehren des Alkorans, und den vorzüglichsten Beweisen der Existenz Gottes, gegen die Freigeister, wie ein Buch zu reden.
Und er redete nun auch wirklich, wie ein Buch von allen diesen Sachen. Er hatte nun reichen Stoff zu predigen, und seine Brüder bekamen alle die nachgeschriebenen Hefte, von der halsbrechenden Kanzel in der Stube wieder von ihm zu hören.
Zuweilen wurde er des Sonntags zu einem Vetter eingeladen, bei welchem eine Versammlung von Handwerksburschen war, hier musste er sich vor den Tisch stellen, und in dieser Versammlung eine förmliche Predigt, mit Text, Thema und Einteilung halten, wo er denn gemeiniglich die Lehre der Papisten von der Transsubstantiation, oder die Gottesleugner widerlegte, mit vielem Pathos die Beweise für das Dasein Gottes nacheinander aufzählte, und die Lehre vom Ohngefähr in ihrer ganzen Blöße darstellte.
Nun war die Einrichtung in dem Institut, wo Anton unterrichtet wurde, dass die erwachsenen Leute, welche zu Schulmeistern gebildet wurden, sich des Sonntags in alle Kirchen verteilen, und die Predigten nachschreiben mussten, die sie dann dem Inspektor zur Durchsicht brachten. – Anton fand also jetzt noch einmal so viel Vergnügen am Predigtnachschreiben, da er sahe, dass er auf die Art mit seinen Lehrern einerlei Beschäftigung trieb, und diese, [122]denen er nun die Predigten zeigte, bewiesen ihm immer mehr Achtung, und begegneten ihm beinahe, wie ihresgleichen.
Er bekam am Ende einen dicken Band nachgeschriebener Predigten zusammen, die er nun als einen großen Schatz betrachtete, und worunter ihm insbesondre zwei wahre Kleinodien zu sein schienen: die eine war von dem Pastor U[hle], der mit dem Pastor P[aulmann] wegen der Geschwindigkeit im Sprechen die meiste Ähnlichkeit hatte, in der A[egidien]kirche gehalten, und handelte vom Jüngsten Gericht. – Mit wahrem Entzücken haranguierte Anton diese Predigt oft seiner Mutter wieder vor, worin die Zerstörung der Elemente, das Krachen des Weltbaues, das Zittern und Zagen des Sünders, das fröhliche Erwachen der Frommen, in einem Kontrast dargestellt wurde, der die Phantasie bis auf den höchsten Grad erhitzte – und dies war eben Antons Sache. Er liebte die kalten Vernunftpredigten nicht. Die zweite Predigt, welche er unter allen vorzüglich schätzte, war eine Abschiedspredigt des Pastor L[esemann], die er in der C[reutz]kirche hielt, und worin derselbe fast vom Anfange bis zu Ende durch Tränen und Schluchzen unterbrochen wurde, so beliebt war er bei seiner Gemeine. Das rührende Pathos, womit diese Rede wirklich gehalten wurde, machte auf Antons Herz einen unauslöschlichen Eindruck, und er wünschte sich keine größre Glückseligkeit, als einmal auch vor einer solchen Menge von Menschen, die alle mit ihm weinten, eine solche Abschiedsrede halten zu können.
Bei so etwas war er in seinem Elemente, und fand ein unaussprechliches Vergnügen an der wehmütigen Empfindung, worin er dadurch versetzt wurde. Niemand hat wohl mehr die Wonne der Tränen (the joy of grief) empfunden, [123]als er bei solchen Gelegenheiten. Eine solche Erschütterung der Seele durch eine solche Predigt war ihm mehr wert, als aller andre Lebensgenuss, er hätte Schlaf und Nahrung darum gegeben.
Auch das Gefühl für die Freundschaft erhielt jetzt bei ihm neue Nahrung. Er liebte einige von seinen Lehrern, im eigentlichen Verstande, und empfand eine Sehnsucht nach ihrem Umgange – insbesondre äußerte sich seine Freundschaft gegen einen derselben namens R…, der dem äußern Anschein nach, ein sehr harter und rauer Mann war, in der Tat aber das edelste Herz besaß, was nur bei einem künftigen Dorfschulmeister gefunden werden kann.
Bei diesem hatte doch Anton eine Privatstunde im Rechnen und Schreiben, welche sein Vater für ihn bezahlte – denn Rechnen und Schreiben war noch das Einzige, welches dieser für Anton zu lernen der Mühe wert hielt. – R… ließ ihn denn bald, weil er schon orthographisch schrieb, eigne Ausarbeitungen machen, die seinen Beifall erhielten, welcher für Anton so schmeichelhaft war, dass er sich endlich erkühnte, diesem Lehrer sein Herz zu entdecken, und so offenherzig und freimütig mit ihm zu sprechen, wie er lange mit niemandem hatte sprechen dürfen.
Er entdeckte ihm also seine unüberwindliche Neigung zum Studieren, und die Härte seines Vaters, der ihn davon abhielte, und der ihn nichts, als ein Handwerk wolle lernen lassen. Der raue R… schien über dies Zutrauen gerührt zu sein, und sprach Anton Mut ein, sich dem Inspektor zu entdecken, der ihm vielleicht noch eher zu seinem Endzweck würde behülflich sein können. Das war nun eben der Inspektor, welcher zu Anton, da er beim Buchstabieren nicht vorschreien wollte, mit der verächtlichsten Miene: [124]»dummer Knabe!« gesagt hatte, welches er noch nicht vergessen konnte, und also noch lange Bedenken trug, einem solchen Manne seine Neigung zum Studieren zu entdecken, der gezweifelt hatte, ob er auch buchstabieren könne.
Indes nahm die Achtung, worin sich Anton in dieser Schule setzte, von Tage zu Tage zu, und er erreichte seinen Wunsch, hier der Erste zu sein, und die meiste Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehn. Dies war freilich eine solche Nahrung für seine Eitelkeit, dass er sich oft schon im Geist als Prediger erblickte, insbesondere, wenn er schwarze Unterkleider trug – dann trat er mit einem gravitätischen Schritt, und ernsthafter, als sonst einher. –
Am Ende der Woche des Sonnabends wurde immer, nachdem vorher das Lied :Bis hieher hat mich Gott gebracht, gesungen war, von einem der Schüler ein langes Gebet gelesen, – wenn dies an Anton kam, so war das ein wahres Fest für ihn – er dachte sich auf der Kanzel, wo er noch während der letzten Verse des Gesanges seine Gedanken sammelte, und nun auf einmal, wie der Pastor P[aulmann] mit aller Fülle der Beredsamkeit, in ein brünstiges Gebet ausbrach. – Seine Deklamation bekam also für einen Schulknaben freilich zu viel Pathos, als dass dieses nicht hätte auffallend sein sollen. Der Lehrer ließ ihn also nur selten das Gebet lesen. –
Ja es entstand zuletzt sogar eine Art von Neid gegen ihn bei den Lehrern. – Einer derselben stellte eine Übung an, wo eine von Hübners biblischen Historien von den Schülern mit eignen Worten musste wiedererzählt werden. Anton schmückte diese Historie, mit aller seiner Phantasie, auf eine poetische Art aus, und trug sie mit einer Art von rednerischem Schmuck wieder vor – das beleidigte den [125]Lehrer, der am Ende die Bemerkung machte, Anton solle kürzer erzählen. Das künftige Mal fasste er also die ganze Erzählung in ein paar Worte zusammen, und war in zwei Minuten damit fertig. – Das war dem Lehrer wieder zu kurz, und brachte ihn aufs Neue auf – endlich ließ er ihn gar keine Historien mit eignen Worten mehr erzählen. – Des Nachmittags fürchteten sich die Lehrer, welche die Katechisation wiederholten, ihn zu fragen, weil er immer mehr als sie nachgeschrieben hatte, – er konnte also gar nicht einmal mehr dazu kommen, seine Fähigkeiten zu zeigen, welches doch sein höchster Wunsch war, um Aufmerksamkeit auf sich zu erregen.
Voller Unwillen darüber, dass er immer ungefragt und stumm dasitzen musste, ging er endlich einmal mit tränenden Augen zum Inspektor, der ihn in den Morgenstunden nun auch öfter gefragt hatte, und sein Urteil über ihn geändert zu haben schien, – dieser fragte ihn, was ihm fehle, ob ihm etwa von einem seiner Mitschüler Unrecht geschehen sei, und Anton antwortete: nicht von seinen Mitschülern, sondern von seinen Lehrern sei ihm Unrecht geschehn, diese vernachlässigten ihn, und niemand fragte ihn mehr, wenn er gleich die Sache besser, als andre wüsste. Hierin möchte man ihm doch Recht verschaffen!
Der Inspektor suchte ihm das auszureden, und entschuldigte die Lehrer mit der Menge der Schüler, von der Zeit an aber fing er an, selbst aufmerksamer auf ihn zu werden, und fragte ihn des Morgens in der Frühstunde öfter, als sonst.
In einer Stunde wöchentlich wurde eine Übung mit den Psalmen angestellt, wo ein jeder der Schüler sich Lehren herausziehn musste; diese wurden auf ein Blatt Papier oder eine Rechentafel geschrieben, und dann abgelesen, wobei [126]mancher stark zu schwitzen pflegte. – Der Inspektor war dabei. Anton schrieb nichts auf. Als aber die Reihe an ihn kam, ging er den ganzen Psalm durch, und hielt eine ordentliche Abhandlung oder Predigt darüber, die fast eine halbe Stunde dauerte, so dass der Inspektor selbst am Ende sagte: es sei nun gnug; – er solle den Psalm nicht eigentlich erklären, sondern nur einige moralische Lehren herausziehen.
Auf die Weise ging beinahe ein Jahr hin, wo Anton so außerordentliche Fortschritte