Heinz Janisch

Der verschwundene Engel


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zu lernen. Eine schöne, aber auch schwierige Übung.“

      „Und man braucht viel Zeit dafür“, sagte Lord Huber. „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen, Mister Gordon?“

      „Aber natürlich. Ich bin Amerikaner, wie Sie bestimmt wissen. Ich habe von meinem Vater eine Autofirma geerbt. Wir haben uns auf alte Modelle für Sammler spezialisiert. Inzwischen haben wir Filialen in vielen Ländern. Die Leute lieben das Außergewöhnliche.“

      „So wie Sie“, sagte Ferdinand. Er deutete auf das Motorboot und das Haus mit dem Steg und der lang gestreckten Terrasse direkt am Wasser.

      „Kommen Sie doch herein und genießen Sie den Ausblick. Wir sehen von der Terrasse aus direkt auf die Schönste aller Schönen, auf die herrliche Märchenstadt Venedig.“ Mister Gordon führte seine Gäste ins Haus.

      „Alles, was ich hier sehe, ist beeindruckend“, sagte Lord Huber. „Die Bilder an der Wand, die Skulpturen, das Haus mit seinen hellen, luftigen Räumen – und dann erst der Ausblick! Sie müssen ein glücklicher Mann sein, Mister Gordon.“ „Oh, danke! Ja, das bin ich! Kein Zweifel, das bin ich! Was darf ich Ihnen anbieten? Was wollen Sie trinken?“

      „Kühles Wasser genügt“, sagte Lord Huber. Ferdinand nickte. „Auch für Herrn Jaromir, wenn das möglich ist. Wir haben eine lange Zugfahrt hinter uns.“

      „Selbstverständlich“, sagte Mister Gordon. „Das Wasser kommt sofort. Nehmen Sie doch inzwischen Platz!“

      Ferdinand und Lord Huber setzten sich in die Liegestühle, die auf der Terrasse bereitstanden. Herr Jaromir suchte sich einen Platz nahe der offe nen Glastür. Noch einen Schluck Wasser, und dann war er bereit für einen Erkundungsgang durch das Haus …

      „Bitte schön“, sagte Mister Gordon und balancierte auf einem Tablett Gläser und einen großen Krug.

      Dann brachte er eine silberne Schüssel, die randvoll mit Wasser gefüllt war. Herr Jaromir genoss die kühle Erfrischung.

      „Verzeihen Sie meine Neugier“, sagte Lord Huber, „aber leben Sie allein hier in diesem wunderbaren Haus?“

      „Nun ja, meine Frau ist derzeit in Frankreich. Wir haben eine alte Mühle in Südfrankreich gekauft, und sie möchte am liebsten gar nicht mehr weg von dort. Meine frühere Haushälterin ist vor einigen Wochen in Pension gegangen, und ich hatte noch keine Zeit, mich um neues Personal zu kümmern. Aber ich muss gestehen – man könnte sich an das Alleinsein gewöhnen.“

      „Ich könnte es mir sofort vorstellen“, sagte Ferdinand und hob sein Glas. „Danke für das Motorboot! Sie haben gesagt, wir dürfen es noch für ein, zwei Tage behalten?“

      „So lange Sie wollen“, sagte Mister Gordon und nippte an seinem Glas. „Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie diesen Diebstahl aufklären wollen.“

      „Würden Sie mir und meinen Freunden noch einmal erzählen, was genau geschehen ist?“, fragte Lord Huber. „Der Diebstahl muss Sie sehr treffen.

      Immerhin sind kostbare Diamanten verschwunden.“

      Herr Jaromir sah Lord Huber irritiert hat. Hatte er nicht im Zug gesagt, es würde nicht um die Diamanten gehen?

      „Ach, die Diamanten“, sagte Mister Gordon. „Natürlich. Diamanten will jeder zurückhaben. Aber noch wichtiger ist mir die Statue selbst.“ „Ist sie so wertvoll?“ Lord Huber spielte mit seinem Stock.

      Herr Jaromir wusste, was das zu bedeuten hatte.

      Lord Huber war dabei, das Gespräch mit dem eingebauten Tonband im Stock aufzunehmen. „Diese Statue ist ein Einzelstück. Ein alter italienischer Meister hat sie gemacht. Sie ist ein Erbstück von meinem Vater. Die Engelstatue hat jahrelang neben meinem Bett gestanden, als ich noch klein war. Das ist es, was diesen Engel so wertvoll macht.“

      „Und wie wurde dieser wertvolle Schutzengel nun gestohlen? Würden Sie mir den genauen Tathergang schildern? Und wären Sie bereit, uns danach den Tatort zu zeigen?“

      „Selbstverständlich!“ Mister Gordon ging nervös auf und ab. „Ich habe vor Jahren einen alten Palazzo mitten in Venedig gekauft. Ich habe viel Geld in seine Renovierung gesteckt und achte auch jetzt darauf, dass er wie ein Schmuckstück aussieht. Er ist ganz in der Nähe der Rialtobrücke, mitten im Gewirr der kleinen Gassen, ein kleiner Kanal führt direkt vorbei. Ich lebe hier, aber ich habe dort, in diesem Palazzo, ein kleines Museum eingerichtet, das jeden Donnerstag geöffnet hat.“ „Warum nur am Donnerstag?“

      „Ich bin an einem Donnerstag geboren. Aber – was soll ich sagen? Ich will mit dem Museum kein Geld verdienen, ich will nur meine Freude an schönen Kunstwerken mit anderen teilen.“

      „Und was zeigen Sie in Ihrem Museum?“

      „Stücke aus meiner Sammlung, die ich im Lauf der Jahre zusammengetragen habe. Erbstücke aus meinem Elternhaus, Kunstwerke, die ich auf Reisen entdeckt habe … Ein Schwerpunkt der Sammlung sind Engeldarstellungen: alte Gemälde und Zeichnungen, aber auch Skulpturen.“

      Lord Huber fuhr mit seinem Stock durch die Luft. „Sie lieben Engel … Das wird wohl der Grund sein, weshalb so viele Engel durch dieses Haus fliegen, nicht wahr?“

      Er deutete auf die kleinen Engelstatuen aus Bronze, die auf dem Tisch im Wohnzimmer standen, und auf ein großes Bild an der Wand, das einen Engel zeigte, der in einem Schwimmbad auf einem Zehnmeterbrett stand, mit ausgebreiteten Flügeln. „Das sind Arbeiten von Gegenwartskünstlern“, sagte Mister Gordon.

      „Das Bild an der Wand ist von einem Jungstar der internationalen Kunstszene. Ich bin ein Sammler seiner Arbeiten seit der ersten Stunde.“

      „Ich habe den Namen des Künstlers auf dem Bild gesehen“, sagte Lord Huber.

      „Dieser LEON scheint hoch im Kurs zu sein. Seine Bilder tauchen auf allen wichtigen Kunstmessen auf. Und dennoch weiß man nichts über den Künstler. Stimmt das Gerücht, dass es sich dabei um eine Frau handeln soll?“

      „Das kann gut möglich sein. Ich beziehe die Bilder über einen Galeristen in Paris. Ich habe zwei Bilder von LEON erworben. Sie haben stolze Preise.“

      „Das Bild passt perfekt zu Ihrem Haus“, sagte Lord Huber. „Als wäre es für diesen Raum gemacht.“

      „So empfinde ich es auch. Sie sehen, hier im Haus wohnen die Engel von heute. Die alten Engel sind im Museum.“

      „Und Ihren Schutzengel? Den wollten Sie gar nicht bei sich haben?“

      „Oh doch“, sagte Mister Gordon. „Er war lange hier im Haus. Dann habe ich ihn vor Kurzem in den Palazzo gebracht. Und jetzt ist er weg.“

      „Haben Sie oft Besuch, hier im Haus?“

      „Nun ja, das kommt schon vor. Ich habe gerne Gäste.“

      „Dann könnte jemand hier im Haus Ihren Schutzengel mit den Diamanten gesehen haben?“ „Das ist gut möglich.“

      „Und wie ist nun der Diebstahl im Museum vor sich gegangen?“

      Mister Gordon seufzte.

      „Der Engel stand in einem elektronisch gesicherten Glasbehälter. Es waren an diesem Nachmittag einige Gruppen da, Reisegruppen aus verschiedenen Ländern. Wir haben ein Abkommen mit einem Reiseveranstalter. Sie bekommen ermäßigte Gruppenpreise. Es war den ganzen Nachmittag über viel los, ein Kommen und Gehen. Der Wärter hat erst am Abend – beim Zusperren – bemerkt, dass die Vitrine leer war und dass der Engel nicht mehr da war.“

      „Es gibt nur einen Wärter? Im ganzen Museum? Und der Alarm ist nicht losgegangen?“ „Er wurde nicht ausgelöst. Und ja, es gibt nur einen Wärter. Das Museum besteht derzeit nur aus einem Raum. Es ist also nicht sehr groß. Eine kleine Sammlung für Kunstfreunde. Die anderen Räume im Palazzo stehen noch leer. Der Wärter im Museum, Tommaso, ist übrigens ein verlässlicher Mann, den ich schon lange kenne.“ „War ein Fenster im Raum offen?“