Elke Schwab

Kullmann unter Tage


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bog in die Barbara-Straße ein und ließ den Wagen langsam rollen, damit er die Hausnummern ablesen konnte. Am Haus mit der Nummer 12 bremste er ab.

      »Hier ist es!«

      Sie stiegen aus und steuerten die Tür an, an deren Seite eine ganze Reihe von Klingeln mit Namen angebracht war. Peter Demplers Wohnung lag im Erdgeschoss.

      Andrea drückte auf den Klingelknopf. Schon nach wenigen Sekunden ertönte der Summer.

      Sie traten ein.

      In der Wohnungstür direkt neben dem Hauseingang stand eine Frau, deren Gesicht eingefallen wirkte. Auch ihre Augen waren geschwollen, als habe sie geweint.

      »Wer sind Sie?«

      Schnur stellte sich und seine Kollegin vor, woraufhin die Augen der Frau sofort aufblitzten, als sie fragte: »Sie wollen mir doch nicht sagen, dass mein Peter ermordet wurde?«

      »Wir wollen nur sichergehen«, meinte Schnur und überreichte der Witwe den Inhalt aus den Kleiderkörben ihres Mannes.

      »Niemals!«, schrie die Frau fassungslos. »Wer sollte so etwas tun?« Sie beachtete den Karton nicht, sondern ließ ihn einfach auf den Boden fallen. Andrea hob ihn schnell wieder auf.

      Aus der Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite trat eine ältere Frau mit einem neugierigen Gesicht heraus.

      »Wollen wir uns nicht lieber in Ihrer Wohnung unterhalten?«, fragte Schnur.

      Frau Dempler nickte und ließ die beiden Polizeibeamten eintreten. Was sie nun zu sehen bekamen, erstaunte sie. Alles war in der Farbe Orange gehalten. Die Tapeten schimmerten in dieser aufdringlichen Farbe, die Gardinen ließen das Tageslicht in orangenen Tönen herein. Tischdecken, Geschirr, Blumenvasen, Kerzen und Wandschmuck – einfach alles.

      Schnur verkniff sich eine Bemerkung, doch die Frau erkannte, was in ihm vorging.

      »Mein Mann und ich lieben diese Farbe«, sagte sie. »Das Schwarz durch seine Arbeit bringt er sogar mit nach Hause. Das ist so trostlos, deshalb wollten wir uns etwas gönnen, was genau das Gegenteil davon ist.«

      Ein überdimensional vergrößertes Foto, das die halbe Wand der Essecke einnahm, zeigte die Tagesanlage der Grube Warndt. Lange verweilte Schnurs Blick darauf. Frau Dempler machte keinerlei Anstalten, den beiden Besuchern einen Platz anzubieten. Also ließen sie sich nach einer Weile unaufgefordert am großen Tisch nieder, der in der Mitte des Raums stand. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. Dort sahen sie eine Küchenzeile, die aus einzelnen alten Geräten bestand. Die Hängeschränke darüber waren weiß und wirkten ebenfalls altmodisch.

      »Das Bergamt hat uns im Fall Ihres Mannes um Amtshilfe gebeten. Deshalb wollen wir uns absichern, dass wirklich nichts übersehen worden ist«, erklärte Andrea.

      Die Witwe ließ sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches sinken und begann zu weinen. Schnur und Andrea warteten geduldig, bis sie endlich den Kopf hob, die Nase geräuschvoll hochzog und bestimmte: »Ich will ihn sehen!«

      »Schon bald«, versprach Schnur, »denn Sie müssen ihn identifizieren. Aber den Termin vereinbaren Sie am besten mit dem Gerichtsmediziner.«

      »Warum das denn?«, fragte die Frau pikiert.

      »Sie dürfen nur in die Gerichtsmedizin, wenn der Chefpathologe selbst anwesend ist.«, erklärte Schnur, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen.

      Frau Dempler schaute auf die Beamten. Nach einer Weile nickte sie. Tränen liefen über ihre Wangen.

      Die Küchenuhr im Nebenzimmer tickte so laut, dass jeder die Sekunden mitzählen konnte. Genau eine halbe Minute dauerte es, bis Frau Dempler sagte: »Verunglückt ist er auf keinen Fall.« Dabei schob sie ihr Kinn vor, als wollte sie damit ihre Aussage unterstreichen. »Wie ich gehört habe, wurde er bis zur Seilscheibe hochgezogen. Wie soll er denn an dieses Stahlseil gekommen sein?«

      »Er könnte im Schacht gewesen sein, um die Leiter hochzuklettern, als der Korb hochgezogen wurde.«

      »Niemals! Er wusste, dass man nicht einfach so in den Schacht geht, um die Leiter hochzusteigen. Peter arbeitet schon jahrelang unter Tage. Da weiß man, worauf man achten muss.«

      »Wir haben gehört, er sei krank gewesen und trotzdem nach unten gefahren. Kann es nicht sein, dass er in einem Zustand von Unkonzentriertheit diesen Fehler gemacht hat?«

      »Peter war kerngesund.«

      Das deckte sich auch mit der Überprüfung des Kleiderkorbs. Nirgends hatten sie einen Hinweis darauf finden könnten, dass Dempler Medikamente einnahm oder sonst etwas für seine Gesundheit tun musste. Die beiden schauten sich fragend an, worauf Frau Dempler sofort reagierte und schrie: »Was geht hier vor? Warum sollte Schorsch so etwas behaupten?«

      »Wie kommen Sie darauf, dass diese Behauptung von Herrn Remmark stammt?«

      »Er ist der Steiger«, entgegnete Frau Dempler. »Nur er weiß, wer krank ist, wer Urlaub macht oder wer stubbt.«

      »Stubbt?«

      »Blau macht oder krankfeiert.«

      »Stimmt. Von Remmark kommt die Behauptung, dass Ihr Mann krank gewesen sei. Und deshalb sind wir hier. Wir wollen uns von Ihnen bestätigen lassen, ob Ihr Mann wirklich krank war, als er gestern zur Arbeit ging, und was ihm genau fehlte.«

      »Ihm fehlte nichts. Er war so gesund wie immer.«

      Eine Weile sagte keiner der drei etwas.

      Kindergeschrei drang durch das Fenster. Die Bäume rauschten und bogen sich im Wind. Ein Automotor wurde lauter und lauter, bis er ausgeschaltet wurde. Das Schlagen von Autotüren und laute Stimmen ertönten.

      »Ich kann Ihnen sagen, wer sein Hausarzt ist«, kam es leise von Frau Dempler, während sie stoisch auf die Bodenvase blickte, in der eine orangefarbene künstliche Blume stand. »Der bestätigt Ihnen, dass Peter kerngesund war.«

      Andrea notierte sich die Angaben.

      »Also glauben Sie nicht an einen Unfall?«, hakte Schnur nach.

      »Niemals.« Sie schaute dem Kommissar direkt in die Augen, doch dann wich sie seinem Blick hastig aus und starrte wieder auf die Bodenvase.

      Schnur spürte Misstrauen in sich aufsteigen. Die Entschlossenheit dieser Frau, den Tod ihres Mannes lieber als Mord denn als Unfall zu akzeptieren, war merkwürdig. Auch ihr Verhalten machte ihn stutzig. Sie benahm sich wie eine Schuldige, dabei wirkte ihre Trauer echt. Sie verheimlichte ihm etwas. Etwas, das mit dem Tod ihres Mannes im Zusammenhang stehen könnte. Aber er übte sich in Geduld und sprach seine Zweifel nicht laut aus. Er ließ etwas Zeit verstreichen, bis er sagte: »Kann es sein, dass Sie uns noch etwas sagen wollen, bevor wir gehen?«

      Frau Dempler atmete tief durch und schüttelte den Kopf.

      Schnur resignierte und erhob sich von seinem Platz. Mit Erstaunen sah er, dass Andrea noch sitzen blieb. Er beobachtete die Kollegin, deren Blick fest auf der Witwe haftete, als sie mit ihrer sanften Stimme sagte: »Sie wissen, dass jedes noch so kleine Detail für uns wichtig sein kann.«

      Frau Demplers Gesichtsausdruck veränderte sich. Schnur sah plötzlich darin eine Bereitschaft zu reden.

      »Das aber nicht«, wehrte sie leise ab.

      »Sie können es uns ruhig anvertrauen und wir sagen Ihnen, ob es hilfreich ist oder nicht.«

      Schnur staunte, wie gefühlvoll Andrea mit dieser Frau umging.

      Frau Dempler schnaubte und murmelte dann: »Bei uns ist eingebrochen worden.«

      »Oh!« Andrea staunte und warf einen Blick auf Schnur.

      Der fragte: »Wann?«

      »Vorgestern Abend.«

      »Wo waren Sie, als es passierte?«

      »Wir waren bei Nachbarn, einige Häuser weiter, zum Abendessen eingeladen.«

      »Haben Sie den Einbruch angezeigt?«