Georg Christian Braun

Das Skelett im Abflussrohr


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Fundort warf viele Fragen auf: Wie kam der Tote dorthin? Oder Wie lange liegt er schon im Abflussrohr? Wer hat etwas beobachtet? Diese Fragen zu beantworten war Degelmanns Aufgabe. Sie übernahm die Drecksarbeit üblicherweise, die Feinjustierung, die Analyse und Synthese der vorhandenen Informationen zu einem Gesamtbild kam Waldschütz zu.

      Der Schädel faszinierte ihn. Nicht, weil er noch nie einen solchen in Händen gehalten hätte. Das vorliegende Exemplar wirkte skurril, wie ein Überbleibsel aus einer fremden Epoche. Wahrscheinlich stammte er auch aus einer Zeit, wo Menschen noch ohne technische Hilfsmittel den Alltag bestritten. Doch das konnten Fachleute am besten eruieren, Archäologen oder Paläontologen. Er war einfacher Kriminalbeamter mit einem ausgezeichneten Instinkt, mehr nicht. Die Hauptfrage wäre logischerweise dann: Wie hat der Tote dort so lange ausgehalten, ohne vollständig zu verwesen? Oder war der Typ noch frisch? Waldschütz hatte nicht die kleinste Spur, was ihn in Stress versetzte. Er trat einige Schritte zur Seite, nachdenken war angesagt. Gelang am besten mit einer Zigarette. Vermutlich die sechste am heutigen Tag, dem 2.3. 2019. „Gab auch mal bessere Tage“, seufzte der Hauptkommissar.

      „Du Helmut“, eilte Karin Degelmann außer Atem herbei, „die Dame ist eine Anwohnerin. Die Uni Tübingen hatte vor etwa drei Monate Ausgrabungen durchgeführt, meinte sie.“

      „So meint sie“, raunzte Waldschütz, „was soll ich damit anfangen? Hingehen und fragen, ob die Wissenschaftler in Bad Cannstatt eine Ausgrabung gemacht haben?“

      „Du hast mal wieder eine Laune“, winkte Degelmann ab und ließ ihren Kollegen in Ruhe.

      Degelmann hatte ihm gerade den Rücken gekehrt, als es ihm wie ein Blitz durch den Kopf schoss: „Ich könnte eine andere Frage stellen, nämlich ob sie ...“ Die schlechte Laune war plötzlich verflogen.

      „Karin, ich fahr mal rasch nach Tübingen. Mir kam so eine Idee, die vielleicht besser wäre.“ Ehe sie antworten konnte, saß Waldschütz in seinem Wagen und brauste in die fünfzig Kilometer südöstlich gelegene Uni – Metropole am Neckar. Den Fluss hatten beide Städte, während Tübingen den deutlich verschlafeneren Eindruck hinterließ, aber mit seiner Lieblichkeit die Menschen magisch in den Bann zog. Was die Wissenschaft betraf, lag Tübingen der Hauptstadt Baden – Württembergs deutlich voraus. Das mussten selbst die eingefleischten Stuttgarter neidlos anerkennen.

      Claudia Heidmüller arbeitete als Archäologie – Professorin an der Uni Tübingen. Der Umgang mit Skeletten gehörte zum Kernbereich ihres Berufs. Ausgrabungen brachten oftmals alte Mumien ans Tageslicht, da durfte man nicht zartbesaitet sein. Schließlich galt ihr Interesse der Wissenschaft und da passten Empfindlichkeiten nicht an vorderster Front.

      „Frau Professor Heidmüller“, platzte Waldschütz in eine Vorlesung, „Kripo Stuttgart, ich müsste Sie sprechen.“ Entsetzt starrte die Gelehrte den Tölpel akademischer Gepflogenheiten an. „Geehrter Herr, Sie müssen sich gedulden. Sie können mich gerne in einer Stunde sprechen. So lange empfehle ich die Caféteria.“ Eine höfliche Aufforderung zu verschwinden. Waldschütz war ausnahmsweise gehorsam und setzte sich mit einer Tasse reinen Öko – Kaffees in die studentische Stube und gönnte sich eine Pause. Er war seit acht Stunden nonstop auf den Beinen und wirkte glücklich über die Arbeitspause, die ihm aufgezwungen wurde. Während er mit den Augen durch das reinigungsbedürftige Fenster schaute und nur schemenhaft den Regen wahrnahm, kreisten die Gedanken um die skelettierte Person, wahrscheinlich männlichen Geschlechts. Der Leichnam – oder besser, das, was davon übrig blieb – wurde in der Gerichtsmedizin von Dr. Helmut Schwarz in Augenschein genommen. Trotzdem drängte ein Impuls in ihm, das Skelett von einer Archäologin untersuchen zu lassen. Waldschütz ahnte nur, dass der befreundete Pathologe den Einsatz der Professorin als Misstrauensbekundung missverstehen würde, was dem Hauptkommissar egal war. „Man muss Freundschaft und Beruf trennen“, machte er sich Mut. Er sinnierte, wie lange ein Mensch tot sein müsste, bis nur ein Skelett an ihn erinnerte? Welche Witterung Einflüsse ausübte auf den Verwesungsprozess? Das waren wichtige Fragen, die er fachfraulich beantwortet haben wollte. Dann und erst nach dieser Aufklärung würde das weitere Vorgehen definierbar werden, sonst würde er im grauen Ermittlungsnebel herumstochern mit geringen Aussichten auf Lichtung. Die Stunde war vorbei, der Applaus der Hörerschaft signalisierte das Vorlesungsende. Waldschütz positionierte sich am Eingang des Hörsaals und erwartete die Gelehrte.

      „Ach ja, Sie“, tat Heidmüller, als ob Sie sich wieder nach langer Zeit an ihn erinnerte, wie das Wiedersehen zweier alter Bekannter nach circa zwanzig Jahren.

      „Waldschütz, Kripo Stuttgart“, drückte der Kommissar den Ausweis unter die gelehrte Nase. „Ich habe ein dienstliches Anliegen.“ Heidmüller ahnte den Grund.

      „Eine skelettierte Leiche, stimmt’s?“

      „Exakt.“

      Das Gespräch wurde im Dienstzimmer der Professorin fortgesetzt.

      „Frau Heidmüller, ich habe mir sagen lassen, dass Sie ...“

      „Erfahrungen habe mit der Altersangabe, ja, das könnte man so sagen.“

      „Nun ist es so, dass die Leiche, also das, was noch vorhanden ist, in der Gerichtsmedizin in Stuttgart liegt.“ Heidmüller verzog das Gesicht.

      „Ich begebe mich nicht dorthin, bringen Sie das Skelett hierher, dann bin ich bereit, mich darum zu kümmern.“ Waldschütz blieb die Sprache weg, eine derart unverschämte Art war ihm nicht untergekommen. Er nickte wie ein Knecht seinem Herrn und bedankte sich für die Hilfsbereitschaft, die er insgeheim als selbstverständlich betrachtete. Nun musste er Dr. Schwarz erklären, warum er den Leichnam zur Uni Tübingen verfrachten lassen wollte.

      „Helmut, pass auf: Ich benötige absolut verlässliche Informationen, die weit übers Medizinische hinausgehen.“ Kleinlaut stimmte der Pathologe zu. „Auf deine Verantwortung und mit der Auflage, dass ich das Skelett in zwei Tagen wieder hier auf dem Tisch liegen habe.“ Waldschütz fluchte. Die Welt hatte sich gegen ihn verschworen, dachte er. Alle wollten ihn knuten, dabei lag ihm nur eines am Herzen: den Tod eines Skeletts aufzuklären.

      Degelmann dagegen ermittelte in einer anderen Richtung. „Vor vier Monaten wurde die Straße neu geteert und Rohre verlegt. Ich gehe stark davon aus, dass unser Skelett ungefähr in dem Zeitraum dorthin gekommen ist.“ Waldschütz hörte nicht zu, er erinnerte sich an einen Artikel in der Tageszeitung, wo es um die Mafia gegangen war. Gleichzeitig soll in dieser Gegend auch ein Obdachloser zu Tode geprügelt worden sein, eine bislang unaufgeklärte Tat.

      „Karin, ich glaube, dass wir diesmal deutlich länger brauchen.“

      „Warum?“

      „Sagt mein Bauchgefühl.“ Und das behielt meistens Recht. Meistens.

      Kapitel 3

      Hauptkommissar Waldschütz transportierte eine ungewöhnliche Fracht in seinem Wagen: eine skelettierte Leiche. Claudia Heidmüller bestand auf einer Untersuchung in ihren Gefilden, also tat der Beamte, was von ihm verlangt wurde.

      Die Archäologin hatte sich auf eine interessante Aufgabe eingestellt und Studenten eingeladen, an diesem einmaligen Projekt mitzuwirken. Waldschütz war das überhaupt nicht recht – er hielt die Klappe.

      Das Auto mit dem Skelett parkte direkt vor dem Institutseingang, die Gelehrte kam dem Beamten entgegen und half ihm, das Skelett in das Gemäuer zu tragen. Im Gegensatz zum Kommissar dachte die Archäologin weniger an den ehemaligen Menschen, der das Skelett mal gewesen war, für sie versteckte sich darin ein Objekt wissenschaftlichen Interesses und so behandelte sie den Toten auch. Ziemlich ruppig und wenig respektvoll. Waldschütz zog indigniert die Augenbrauen hoch und hatte alle Mühe, den Zorn im Zaume zu halten.

      Heidmüller hievte die Knochenteile auf einen Untersuchungstisch und startete erst einmal einige technische Geräte. Nicht nur für die Analyse, sondern zur Veranschaulichung für das studentische Publikum. Selbst zog sie eine Lampe über ihren Kopf, damit sie die Stellen beleuchtete und exakt analysieren konnte. In den Händen hielt sie unterschiedliche Instrumente, von der Pinzette bis zum Schaber – die Leiche