Martha Kindermann

BeTwin


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sind fertig.« Tam lenkt unsere Aufmerksamkeit nach vorn, um die Auswertung zu verfolgen.

      »Nun, vielen Dank für Ihre erfolgreiche und flinke Arbeit. Mehr und mehr fruchtet der Unterricht und ich kann beruhigt schlafen, sobald Sie in der Warte von Ihren Fähigkeiten profitieren werden.« Hach, so eine nächtliche Schmeichelei geht runter wie Öl. Ist auch nötig nach den Offenbarungen der heutigen Sitzung. »Wie Sie nun wissen, befindet sich Caris in der Obhut von Josi Trenton, danke Gruppe 1, und leidet vermutlich an einer dissoziativen Amnesie«. Gruppe 2 klatscht sich verdient ab. »Was bedeutet, dass ihr jede Erinnerung an ihre Vergangenheit genommen oder frisiert wurde.« Es ist alles so schrecklich. »Valda und ihr Team versuchen, diskret, mehr Informationen zu sammeln und uns über Caris Befinden auf dem Laufenden zu halten.« Die Klasse hält den Atem an. »Wir setzen alle Hoffnung daran, dass einige von Ihnen vor Ort Kontakt zu ihr aufbauen können und mittels angelernter Hypnosetechniken diese Amnesie zu lösen im Stande sind.« Dafür müssen wir erst einmal nach Midden gelangen und dann auch noch in ihre Nähe. Klingt nach einem absolut utopischen Unterfangen. »Bitte befassen Sie sich neben dem aktuellen Lernstoff auch mit diesem Vorhaben und werden Sie kreativ, was die Umsetzung eines solch komplexen Verfahrens in der Realität angeht. Geduld und Spucke sind hierbei unsere einzige Möglichkeit. Guten Schlaf.«

      Tristan

      »Oh, mein Gott.« Eine aufgeregte Stimme dringt neben mein Ohr. Weiblich. Eine warme Hand streicht über die meine. Ich genieße die Berührung, kann aber nichts zurückgeben. »Tristan?« Sie schluchzt. »Tristan, ich bin hier und hoffe, dass es für dich in Ordnung ist, auch wenn du mich im Moment vielleicht nicht hören kannst.« Und wie ich dich hören kann. Klar und deutlich. Deine Stimme verfolgt mich in meinen Träumen. Sie hielt mich die letzten Wochen am Leben. Um diese Stimme zu hören, ertrug ich den Hunger, die Kälte, die Dunkelheit und vor allem die Einsamkeit. Bitte hör nicht auf zu sprechen. Eine bessere Medizin kann mir kein Arzt verschreiben.

      »Prof. Pfefferhauser meinte, es sei wichtig, Kontakt zu halten. Klingt mal wieder total bescheuert, aber ich lasse mir gerade von Rafael ein Kissen und bequeme Hosen bringen. Keine zehn Pferde bekommen mich aus diesem Zimmer, bis du ein Zeichen von dir gibst. Das Klo liegt auf dem Gang, wage es also nicht, dein Aufwachen in meine Toilettenzeit zu legen, verstanden!« Sie schmunzelt, das weiß ich auch, ohne es sehen zu können. Das linke Grübchen tanzt dann so schön auf ihrer Wange und der Mund kräuselt sich in einer Art und Weise, dass ich sie auf der Stelle küssen könnte. Oh verdammte Ohnmacht!

      »Dein Vater muss jeden Moment hier sein und dann wird es womöglich einen riesigen Aufstand geben. Der Typ, dem die Garage gehört, in der du gefangen warst, wurde in U-Haft gesteckt und das gesamte Areal um das Bürgerhaus ist so lange Sperrzone, bis die Spuren gesichert sind und deine Entführung aufgeklärt ist.« Sie atmet schwer. All diese Worte kommen kaum über ihre wundervollen Lippen. Quäl dich nicht, Liebste. Ich habe die grausigen Details schon von Pfefferhauser, Moreno und mindestens drei Assistenzärzten zu hören bekommen. Mein Hirn ist vernebelt und ich realisiere alles nur bruchstückhaft, aber du musst dir die Last der Aufklärung nicht auch noch aufbuckeln. Halt einfach meine Hand und ich werde gesund. »Keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, aber Tam wird sicher auch hier antanzen müssen. Keine Sorge, in diesen fünf Minuten werde ich garantiert schrecklichen Hunger bekommen um die Kantine aufsuchen zu müssen.« Sie ist so süß und es ist ein unbeschreiblich befreiendes Gefühl, die Gewissheit zu haben, die erste Wahl zu sein. Ich verspüre nicht den Drang, meinen Bruder sehen zu wollen – gut, das kann ich ja auch nicht, aber jeder in meiner Umgebung könnte neue Hinweise geben, wie ich hier hergekommen bin. Meine Erinnerungen beschränken sich auf Gefühle und Empfindungen. Meine Augen waren verbunden und so bekam ich während meiner Gefangenschaft keine Menschenseele zu Gesicht. Ich aß nicht, ich trank nicht, ich musste nie aufs Klo – das ergibt alles keinen Sinn. Die Ärzte sprechen von Monaten. Sie sagen, ich hing an der Nadel wie ein Junkie auf einem beschissenen Trip? Absoluter Megafilmriss. Ich war an jenem Tag auf dem Weg, so viel weiß ich. Aber wohin? Ich sehe mich laufen. Es ist kalt. Ich trage Handschuhe und meinen Patchworkschal. Roya ist nicht da und auch sonst keiner. Es fühlt sich an, als sei mir eine kleine Ewigkeit aus dem Bewusstsein gelöscht worden. Doch am allermeisten interessiert mich der Grund dieser gestörten Aktion. Warum hat mich dieser Typ über Wasser gehalten und mich nicht einfach gekillt? Profitierte er von meinem Verschwinden? Hat die Regierung möglicherweise ein Druckmittel gegen meinen Dad gesucht und ist mit diesem Kerl einen Deal eingegangen?

      »Du hast so einiges verpasst, weißt du. Caris wurde gefunden.« Stimmt, Caris wurde ebenfalls vermisst. Seltsam. »Im Gegensatz zu dir wurde sie vermutlich nicht körperlich misshandelt, sondern all ihrer Erinnerungen beraubt. Echt Scheiße. Es kann kein Zufall sein, dass ihr im Abstand von zwei Tagen beide wieder auf der Bildfläche erscheint, meinst du nicht?« Wie soll ich dir diese Frage nur beantworten, meine Schöne? »Aber du wirst nun erstmal gesund und wir kümmern uns um das Warum.« Sie schiebt meinen Beatmungsschlauch vorsichtig zur Seite und legt sich sanft auf meine Brust. »Ich bin so froh, dich wieder zu haben, so unendlich froh.« Mein Schädel brummt, ich bin total im Arsch und todmüde – meine eigenartige Definition von Glück, denn Roya ist hier. Das ist alles, was ich von der Welt gefordert habe. Danke.

      Die Traue-Niemandem-Liste

      »Roya! Roya! Roya, he, aufwachen, Süße!« Ich will nicht! Lass mich in Ruhe! Geh weg! »Tristan ist hier in guten Händen, du brauchst mal eine Pause. Komm, bitte!« Langsam öffne ich meine bleischweren Lider und sehe Fenjas mitfühlendes Gesicht vor mir. Elvis lehnt hinter ihr im Türrahmen und hebt die Hand zum Gruße, als ich zu mir komme.

      »Wie spät ist es?«

      »Kurz nach zehn. Du liegst nun seit fünf Tagen auf diesem Sessel und verströmst einen unangenehmen Duft! Ehrlich Mädchen, eine kleine Rundumerneuerung würde dir nicht schaden.« Sie hilft mir auf und löst vorsichtig meine Hand aus Tristans zaghafter Umklammerung. Ein Schmerz durchfährt mich. Auch wenn es nur für wenige Stunden ist, so kann ich ihn doch nicht ruhigen Gewissens dem Krankenhaus überlassen. All die schrecklichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sind unumstößlich mit dieser Station und diesen vier Wänden verbunden. Die Sterne könnten nicht schlechter stehen.

      »Aber…«, setze ich an.

      »Nichts aber! Elvis bleibt hier, bis du deine Menschlichkeit wiedergefunden hast. Glaub mir, so eine Stinkmorchel wie dich möchte Tristan nicht 24 Stunden auf seinem Bett rumliegen haben. Komm!« Fenja gibt Elvis einen Abschiedskuss und wir verlassen über das Treppenhaus das Gebäude.

      Nach einer wohltuenden Dusche setzen wir uns ins Wohnzimmer der Familie Lebe und legen die Beine hoch. Der rosa Plüschanzug meiner Freundin ist zu bequem, um wahr zu sein, auch wenn sein Aussehen ein Verbrechen an der Menschlichkeit ist. Fenja hat Smoothies gemacht und stellt selbstgebackene Haferkekse auf den Tisch.

      »Magst du drüber reden?« Ich könnte mich dumm stellen und so tun, als hätte ich null Ahnung, wovon sie da spricht, aber ich weiß, dass ich keine Wahl habe und nicke ihr zu.

      »Es war während der Eröffnungsshow. Der Bruder des Garagenbesitzers fand Tristan zufällig, als sein Fernseher den Geist aufgab und er in dieser heruntergekommenen Bruchbude nach Ersatz suchen wollte. Dass sein Bruder heimlich ein kleines Psycholabor errichtet hatte, um an einem Teenager kranke Experimente durchzuführen, ahnte er natürlich nicht. Tristan war sauber und hatte keinerlei Wunden oder andere Beweise für stumpfe Gewalteinwirkungen an seinem Körper. Dieser Gestörte muss ihn wochenlang zugedröhnt und auf einer Pritsche festgeschnallt haben.« Ich stocke. Es ist nicht das erste Mal, dass ich die Geschichte erzähle, aber es tut so verdammt weh. Wie kann ein Mensch nur zu solch einer Grausamkeit fähig sein? Fenja streicht über meinen Rücken und redet mir gut zu.

      »Du musst es mir nicht…«

      »Doch, kein Problem. Ich möchte es, wirklich.« Noch einmal tief Luft holen. Fenja ist meine beste Freundin und hat die Wahrheit verdient. Sie wird uns beiden besser helfen können, wenn sie diesen perversen Geist kennen und verstehen lernt. »Tristan wurden die Augen verklebt.« Puh, vielleicht kann ich doch nicht weitersprechen.