Rainer Maria Rilke

Lyrische Prosa


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      LUNATA

Lyrische Prosa

      Lyrische Prosa

      Frühe Erzählungen

      © 1894-1897 by Rainer Maria Rilke

      Umschlagbild Vassily Kandinsky

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       Der Dreiklang

       Was toben die Heiden?

       Das Eine

       Der Rath Horn

       Silberne Schlangen

       »To«

       Der Tod

       Der Ball

       Der Betteltoni

       Eine Heilige

       Die rote Liese

       Zwei Schwärmer

       Bettys Sonntagstraum

       Totentänze

       Requiem

      Der Dreiklang

      Alle Welt hatte den Kopf geschüttelt damals als Dr. M... die achtzehnjährige Baronesse zum Weibe genommen. »Tut nicht gut« hatten kluge Leute gemunkelt. Er an die sechzig und – sie?...

      Ob sie damals Recht hatten, diese Klugen? Lange sprach niemand mehr darüber. Die Vermählung des greisen Schriftstellers ward vollzogen und die bösen Zungen kamen umso früher zu Ruhe, zumal sich M... mit seiner Adda aus dem Bannkreise der lästigen Beobachtung auf ein kleines Landgut zurückgezogen hatte. Heute war sein Name wieder in Aller Munde. Ein neues Stück M's, sollte abends im Residenztheater über die Bretter gehen. Große Anzeigen leuchteten an den Ecken. Der Name des Autors hatte guten Klang, und das Haus versprach übervoll zu werden.

      Die Klügsten der Klugen aber standen schon am Vormittage an den Ecken beisammen und rieten her und hin, was man nach dem Titel von dem Drama zu erwarten hätte. Der war sonderbar genug:

       Der Dreiklang

      »Der Dreiklang« stand in ungeheuren schwarzen Lettern über dem Personenverzeichnisse. Und erst die Personen! Er, sie, ein Hausfreund...

      Ja, die Klugen sind halt überaus scharfsichtig.

       Zweiter Akt, dritte Szene:

      Der Gatte: ... und du liebst ihn, Irma?

      Sie: (Gattin): offen – ja!

      Er: Gut, dass du so offen bist.

      Sie: Du verdienst es; belügen werde ich dich nie!

      Er: Diese Wahrheit schmerzt. Freilich – ich hätte bedenken sollen, als ich dich heiratete: du bist jung und – ich...

      Sie: Nicht doch. Du handeltest damals ganz recht. Ich will mich nicht von dir lossagen; ich vermöchte es nicht; – denn... denn... ich (zögernd) ich schätze – dich.

      Er: Mein Kind...

      Sie: Du sagtest mir oft: Ich könnte nicht ohne Dich sein, Irma; du verstehst mich; du bist mir geistig ebenbürtig.

      Er: Du bist es

      Sie: Wohl – nun höre: Lass mich geistig dein Weib sein – geistig – begreifst du? – und meinen Leib ...

      Er: (entsetzt) Irma!

      Sie: Was erschrickst du? Ich gebe Dir mein besseres Teil.

      Er: (bebend) Irma!

      Sie: (ohne aufzuhorchen) Den Geist, das Göttliche, Ewige Dir, Mann, Dir!

      Er: (zögernd) und jenem?

      Sie: Die sündige, eitle Lust, der der Ekel folgt auf den Fersen...

      Er: Mir schaudert vor dir.

      Sie: (Näher tretend) Freund, mein Gedanke ist groß. Wie viel Elend, wie viel geheimer Frevel würde aus der Welt schwinden, wenn alle ihn zu denken imstande wären.

      Er: Nein, Weib, du sprichst im Wahn – (steigernd) entweder bist du mein mit Leib und Seele mein, – (schreiend) mein! ...

      Sie: (kalt) Bezähme Dich!

      Er: Aber...

      Sie: Ich hielt Dich für größer. So bist auch du, du den Europa zu den Leuchten des Wissens zählt, von dieser läppischen Kleinlichkeit befangen, die Geist und Körper immer auf einen Rahmen spannt? Dass ich dir doch die Augen öffnen könnte!

       Er: (sieht sie starr an)

      Sie: Ha, ich sehe du fühlst die gigantische Wucht meines Riesenplanes.

       Er: (macht eine Gegenbewegung)

      Sie: Ich weiß was du sagen willst. Dies Verhältnis ist gegen die Natur. Nichtwahr, das schwebte Dir auf den Lippen?

      Wie kurzsichtig du bist! Thor bei all deiner Weisheit. Blick hinaus! Dem einen Strauche hat die Natur bloß Blüten gegeben, holde, keusche, duftige Triebe; – bei anderen fallen die Blumenblättchen bald ab und es drängt die brutale, sinnliche Frucht hervor. Ist es im Leben anders? Den Einen, den großen, ewig-keuschen Kindern, den Künstlern, sollen nur Blüten zu eigen sein. Geistige Keime nur, unsterbliche Triebe sollen in ihrer reinen Seele entstehen und sich emporheben in ein sonniges, seliges Dasein. Dem tierischen Gezücht aber, dem kommt die Frucht zu, die gemeine berauschende Frucht. Kind du! Mit den großen, träumerischen Augen, in denen tausend Ideale schimmern – weißhaariges Kind, du ertrügst ihn ja gar nicht den zerstörenden, wütenden Brand der sinnlichen Liebe.

      Er: (nachdenklich) Vielleicht ... aber warum kannst du, die du mir ebenbürtig bist im Geiste nicht auch wie ich so... so...

      Sie: So geistig – willst du sagen – ausharren? Warum? Weil das Weib ein Doppelwesen ist von Natur göttlich und hündisch zugleich. Unsere Seele bleibt rein, wenn die süße Begierde im Feuer der Sünde schmilzt, und das grässliche Gift der berückenden Lust besudelt nicht den Geist des schwachen, bebenden Weibes. Zu geilem Genuss hat die Natur uns gemacht, aber die eigene Kraft verlieh uns die bessere Seele.

      Das Weib ist ein Buch, Bibelsprüche stehen drin, aber der Einband ist mit den Farben der Sünde bemalt. Hast du denn in keinem der tausend Bücher die du gelesen und wieder gelesen Aufklärung gefunden über dieses Doppelding,