Die Kleine war eingeschlafen.
»Endlich« seufzte die junge, blasse Frau, die zuseiten des garnvergitterten Kinderbettchens saß. Sie faltete die Hände überm Knie und schaute starr mit den großen, grauen Augen ins gelbe Lampenlicht. Es war ganz still in der Stube. Um so lauter tönten des schlummernden Kindes regelmäßige Atemzüge. Einschläfernd – dachte die Mutter und senkte für einen Augenblick die breiten Lider. Dann hob sie den Blick und sah im Zimmer umher. Es war vornehm, aber nicht wohnlich, die hohen Möbel mit den massigen Füßen und verzierten Platten schienen zu neu, die Fenstervorhänge zu kostbar und reich. Alles war kalt, fremd, förmlich; und sie seufzte wieder.
Wie still es um sie war! Das Kindermädchen hatte sie ins Gesindezimmer hinabgeschickt, ihr Gemahl war noch nicht zuhause, und draußen auf der Straße regte sich nichts. Sie waren ja auch mehr denn eine Stunde von der Stadt entfernt und – was hätte ihr denn selbst die Stadt geboten? Hier im einsamen Mühlhof – so nannten die Leute die Villa des Mühlenbesitzers, die den Arbeiterhäusern genüber am Rande des grünen, schlammigen Teiches lag, – hier war es ja so ganz recht für sie.
Sie sann nach wie sie sich heraus gefreut hatte ... damals, ja damals ...
Das Kindermädchen trat ein.
Kurz schickte sie sie wieder weg.
Ja, sie wollte allein sein; sie wollte einmal nachdenken, nachdenken...
Die Magd ging.
Clara stützte das Kinn in die Hand. Ihre Gedanken flogen weit, weit zurück. Bis in die erste Kindheit. Vater, Mutter sah sie; den Vater mit den harten Zügen, den umfurchten Lippen, den tiefen von zahllosen Fältchen umgebenen, farblosen Blick; und die Mutter das gute, kleine, herzliche Wesen mit der ewig zitternden Stimme und den träumerischen tiefbraunen Augen ... beide – tot. Ihre Gedanken wurden trübe: sie sah den Leichenwagen und die schwarzen Männer, und spürte den dumpfig-feuchten Blumenduft und Weihrauch. Sie schauerte.
... erst die Mutter, kurz darauf der alte, gebeugte, strenge Mann ...
Das Kind regte sich im Bettchen. Die Mutter aber vernahm es nicht. Wie funkelnde Turmspitzen aus dem Nebel, so glänzten Ereignisse aus der Kindheit hell zu ihr herüber: der erste Christbaum. Wie lange hatte man sie darauf vorbereitet, was ein Fest das würde! Sie war sehr fleißig in der Schule – des Christbaums wegen, sie nähte und strickte sich die kleinen Finger halb wund, und las in der Fibel, bis der Vater ärgerlich über das viele, verbrannte Öl die Lampe abdrehte. Der Christbaum. Das war der Inhalt ihrer Tage, der Traum ihrer Nächte. Dann kams. Aufgescheuert war die gute Stube mit dem spiegelglatten Fußboden und den steifbeinigen, ernsten Stühlen; und mitten drin das Bäumchen mit Lichtern und Süßigkeiten ... ja, das war eine Freude! – Aber als man sie dann nach zwei Stunden zubette brachte, da lag es ihr drückend auf ihrer kleinen Brust. Weinen hätte sie mögen. Sie fühlte, dass etwas, etwas doch dabei gefehlt hatte, – sie wusste nicht was... Aber eine Leere war im Herzen zurückgeblieben, – und in dieser Leere, dieser Lücke kauerte es – wie eine Enttäuschung.
Sie dachte weiter; so war es bei jedem Spiel, bei jeder Freude gewesen. Lange vorher schilderten Vater und Mutter ihr die Wonnen des bevorstehenden Ereignisses. Wie gut sie lauschte, wie das Herz ihr schlug vor seliger Erwartung. Und endlich wars dann gekommen und hatte nur Wehmut in Bitterkeit in ihr zu erregen vermocht, nach einem jähen, grellen Aufflackern von toller jubelnder Freude.
Der Kopf schmerzte sie. Sie hob ihn langsam empor, und löste leise den Haarknoten. Dabei bemerkte sie ihr Bild dort drüben im Spiegel. Sie sah das üppige, braune Haar, die großen Augen... und da fiel ihr ein, dass die so ernst seien. Und sie lächelte. Aber das sah sehr müde aus. Da hatte sie einmal doch anders lächeln können. Der Abend kam ihr in den Sinn vor ihrem ersten Balle.
Damals! »Wir bringen das Opfer, mein Kind«, hatte der Vater gesagt, »obwohl es uns nicht gar leicht fällt. Wir bringen dir das Opfer.« – Opfer! – Und sie hatte gejubelt. Das leichte Tüllkleid mit den einfachen Blumen schien ihr wie die goldene Robe der Märchenprinzessin. Vor den Spiegel stand sie – stundenlang. Der Vater schüttelte den Kopf, und die Mutter saß neben ihr und drückte von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die verträumten Augen ...
... und sie kam weinend am nächsten Morgen nachhause. Warum? Sie konnte es nicht sagen. Sie hatte gefallen. Schönheiten hatte sie genug gehört und alle modernen Metaphern der Bewunderung, die aus dem Großstadttreiben in die Provinz gedrungen waren, hätten ihr die Männer zu Füßen gelegt ... und sie? – Ja, sie hatte daran Freude gefunden einen – Augenblick. Später, später war es eben so, wie immer. In ihrer Seele klaffte wieder jener unausfüllbare Spalt. Es fehlte jenes – etwas. Wie hatte sie es denn immer nur als Kind genannt? – das, ... das ... das Eine! ...
Ja, das Eine, das fehlte ihr immer ...
Drei Monde hernach starben die Eltern.
Dann, – dann, sie wusste nicht recht mehr was dann war?
Ja, dann hielt er um sie beim Oheim an, der August; der reiche Mühlenbesitzer um die arme Waise.
»Sie hat Glück« murmelten die Leute und schüttelten die Köpfe.
So ward sie Braut. Dann kam die Hochzeit.
Jetzt wird es sich erfüllen – das Eine. So hatte sie damals geträumt.
Aber vor dem Altar spürte sie Weihrauch und Blumenduft, und es fiel ihr nichts anderes ein, als das Begräbnis ihrer Eltern ... Fünf Minuten später hatte sie »ja« gesagt. Sie war Augusts Weib.
Hochzeitsmahl: Lachende Menschen, Gläserklirren, Toaste – und was wusste sie was dann ... Sie zog sich bald zurück.
Er folgte ihr – ihr Mann.
Der Türvorhang rauschte zu. Sie waren allein.
Eine Sekunde war ihr, als müsste jetzt ein grenzenloses Glück aufblühen, als müsste jetzt das Eine ...
Da streifte sein Atem ihr Gesicht; sie fühlte den ekelhaften Dunst von Bier und Wein, sie erschrak vor dem tierischen Blick seiner glänzenden Augen ...
Dann war das Kind ihre ganze Hoffnung. Wenn das auf der Welt sein würde, dann würde sie ein Wesen haben in dem sie aufgehen und leben könnte ... ja, das ist – was ihr fehlte – dachte sie.
Das Kind kam. Mit ihm Schmerzen und Umständlichkeiten. Dann das Geschrei und Augusts lächerliche Zärtlichkeiten. Und jetzt lachte sie wirklich.
Darüber fuhr sie aus ihren Träumen.
Sie schaute umher.
Das Kind hatte sich abgedeckt.
Sie aber rührte sich nicht.
Da polterte etwas. Ein Wagen donnerte unten in den Flur.
Ein Gedanke durchfuhr sie: August! – Jetzt wird er wieder kommen mit seinen verschwommenen Augen, seiner weintrunkenen Heiterkeit. Aus dem kaufmännischen Casino, wie er sagte. Wird sie umarmen, küssen und abgeschmackte Witze wiederkäuen. Es ekelte sie auf einmal. Sie sprang auf, versperrte die Tür und lauschte. Ja, jetzt kam er. Sie kannte diese Schritte. Jäh drückte er die Klinke herab, pochte dann; noch einmal; rief sie beim Namen. Dann hörte sie ihn fluchen. Einen Augenblick wartete er noch. Dann schritt er pfeifend durch das Zimmer, und endlich vernahm sie, wie er schwerfällig die Treppe hinabstieg. Er mochte denken, sie sei eingeschlafen und begab sich in sein Zimmer zu Ruhe.
Sie atmete auf. Die Kehle war ihr trocken. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl am Bettrande. Sie hörte, wie im Hofe die Pferde ausgespannt werden. Rohes Schreien, dann Weiberstimmen. Kichern. Sie sah nach der Uhr. Es ging auf 11. So. Jetzt also wieder diese Nacht, und – was dann?
Dann wird es wieder Morgen werden. Sie wird auf das Mädchen läuten. Das Kind waschen und anziehen lassen. Zum Frühstück hinabgehen. Den Haushalt besorgen, dann zum Fenster hinaussehen auf das breite Fabriksdach und den grünen, tiefen Teich; und drüben werden Maschinen ächzen und Menschen schreien wie immer. So nicht nur morgen, so übermorgen, – und alle Tage fort – immer... Ihr schwindelte. Sie schloss die Augen. Sie fühlte diese Unendlichkeit. Grau