die Nacktheit der Frau war es, die mich bereits peinigte. In den Stunden der Einsamkeit vermochte ich nicht, meine Reinheit zu wahren. Ich litt und quälte mich, wie neunundneunzig vom Hundert unserer Knaben sich quälen. Entsetzen ergriff mich, ich duldete, ich betete – und kam immer wieder zu Falle. Ich war bereits verdorben in Gedanken und in Wirklichkeit, den letzten Schritt jedoch hatte ich noch nicht getan. Ich ging allein dem Untergange entgegen, hatte aber noch nicht Hand angelegt an ein anderes menschliches Wesen. Doch ein Kamerad meines Bruders, gleichfalls Student, ein lustiger Bursche, ein sogenannter guter Kerl, das heißt ein richtiger Taugenichts, der uns auch das Trinken und Kartenspielen beigebracht hatte, überredete uns nach einer Kneiperei, ›dahin‹ zu fahren. Und so fuhren wir denn da hin. Mein Bruder, der gleichfalls noch unschuldig war, kam in jener Nacht zu Falle. Und ich, der sechzehnjährige, unreife Bursche, besudelte mich selbst und half ein Weib besudeln, ohne auch nur im geringsten zu begreifen, was ich tat. Hatte mir doch niemand von den Älteren je gesagt, daß das, was ich tat, etwas Böses sei. Auch heute wird man eine solche Warnung nie zu hören bekommen. In den ›zehn Geboten‹ ist davon allerdings die Rede, gewiß, aber die ›zehn Gebote‹ sind doch schließlich nur dazu da, daß man dem Religionslehrer bei der Prüfung eine Antwort gibt, auch sind diese Gebote lange nicht so wichtig, wie das Gebot über den richtigen Gebrauch des ›ut‹ in Bedingungssätzen.
So hatte ich von allen älteren Leuten, auf deren Meinung ich Wert legte, nie davon gehört, daß es sich dabei um etwas Böses handle. Im Gegenteil hatte ich von diesen Leuten, die ich hochschätzte, immer nur gehört, die Sache sei durchaus gut und löblich. Ich hatte gehört, daß meine Kämpfe und Leiden danach zum Stillstand kommen würden, hatte es gehört und gelesen; von älteren Leuten hatte ich gehört, daß diese Sache der Gesundheit dienlich sei, und die Kameraden meinten, es läge darin etwas Verdienstliches, eine gewisse Schneidigkeit. Man sah also darin nur lauter Gutes. Die Gefahr einer Erkrankung? Auch dafür ist Vorsorge getroffen. Die Polizeibehörde trifft ihre umsichtigen Maßnahmen. Sie überwacht und regelt das Leben der Freudenhäuser und schützt die Ausschweifungen der Gymnasiasten. Besoldete Ärzte tragen Sorge dafür. Somit ist alles aufs beste bestellt. Sie behaupten, die Ausschweifung sei der Gesundheit zuträglich, und sie achten darauf, daß die Ausschweifung ihren wohlgeregelten, geordneten Gang nehme. Ich kenne Mütter, die in dieser Hinsicht sich selbst um die Gesundheit ihrer Söhne bekümmern. Und auch die Wissenschaft schickt ja die jungen Leute in die Freudenhäuser.«
»Die Wissenschaft? Wieso?« fragte ich.
»Nun, was sind denn die Ärzte anderes als Priester der Wissenschaft! Wer verdirbt denn die jungen Leute durch die Behauptung, daß dies für die Gesundheit notwendig sei – wer denn anders als sie? Und dann kurieren sie mit dem ernstesten Gesichte von der Welt – die Syphilis!«
»Warum soll man denn die Syphilis nicht heilen?«
»Weil, wenn auch nur der hundertste Teil der Anstrengungen, welche auf die Heilung der Syphilis verwandt werden, der Bekämpfung des Lasters gewidmet würde, die Syphilis längst ausgerottet wäre. So aber werden diese Anstrengungen nicht zur Bekämpfung der Ausschweifung, sondern zu ihrer Förderung, zur Sicherung ihrer Gefahrlosigkeit verwendet. Doch nicht das ist der Kernpunkt der Sache. Der Kernpunkt ist vielmehr, daß ich, gleich neun Zehnteln – oder noch mehr – der jungen Leute unserer Kreise, ja überhaupt aller, auch der bäuerlichen Kreise, das Unglück hatte, nicht dem natürlichen Zauber der Reize einer bestimmten Frau zu erliegen. Nein, nicht eine Frau hat mich verführt, sondern ich erlebte diesen sittlichen Fall darum, weil die Angehörigen des mich umgebenden Gesellschaftskreises in meinem sittlichen Fall teils eine normale, gesundheitsfördernde Funktion, teils einen völlig natürlichen, nicht nur verzeihlichen, sondern sogar unschuldigen Zeitvertreib eines jungen Mannes sahen. Ich begriff gar nicht, daß hier von einem sittlichen Fall die Rede sein könne; ich begann mich diesen Dingen einfach hinzugeben, die einerseits als Vergnügen, andrerseits als Bedürfnis gelten und, wie man mir eingeprägt hatte, einem bestimmten Alter eigentümlich seien, begann mich dieser Ausschweifung hinzugeben, wie ich seinerzeit mit dem Trinken und Rauchen begonnen hatte. Und doch lag in diesem ersten sittlichen Fall etwas Besonderes und tief Bewegendes.
Ich erinnere mich, daß mir gleich dort, an Ort und Stelle, bevor ich noch das Zimmer verlassen hatte, ganz traurig zumute wurde, so traurig, daß ich nahe daran war, zu weinen. Zu weinen um meine verlorene Unschuld, um das für immer zerstörte Verhältnis zum Weibe. Ja, das natürliche, einfache Verhältnis zum Weibe war für mich auf immer verloren; ein reines Verhältnis zum Weibe gab es seither für mich nicht mehr und konnte es nicht mehr geben. Ich war das geworden, was man einen Wüstling nennt. Und ein Wüstling zu sein, ist ein ähnlicher physischer Zustand wie der Zustand des Morphinisten, des Trinkers, des Rauchers. Wie der Morphinist, der Trinker, der Raucher kein normaler Mensch mehr ist, so ist der Mann, der mehrere Frauen zu seinem Genuss kennengelernt hat, kein normaler Mensch mehr, sondern ein für immer verdorbener ›Wüstling‹. Wie man den Trinker und den Morphinisten sogleich am Gesichte und am ganzen Gebaren erkennt, so ist auch der Wüstling sogleich als solcher zu erkennen. Der Wüstling mag sich bemühen, enthaltsam zu sein und seinen Hang zu bekämpfen – eine einfache, klare, reine Beziehung zum Weibe, wie die Beziehung des Bruders zur Schwester, wird es für ihn niemals mehr geben. An der Art, wie er aufblickt und ein junges Weib ansieht, ist der Wüstling zu erkennen. So war ich also ein Wüstling geworden und blieb ein solcher, und das eben war es, was mich zugrunde gerichtet hat.«
5
Ja, so ist es; dann ging es weiter und weiter, ich hatte alle möglichen Verhältnisse. Mein Gott, wenn ich so an alle Gemeinheiten zurückdenke, die ich in dieser Hinsicht begangen habe, dann erfaßt mich ein wahrer Schrecken. Und dabei lachten mich die Kameraden noch aus wegen meiner sogenannten Unschuld. Was bekam man erst zu hören, wenn von der goldenen Jugend, den Offizieren, den Gecken nach Pariser Art die Rede war! Und wie kamen sich alle diese Herren, darunter auch ich, diese dreißigjährigen Lebemänner, die wohl Hunderte aller möglichen abscheulichen Verbrechen gegen die Frauen auf dem Gewissen hatten, wie kamen sie sich vor, wenn sie sauber gewaschen, glatt rasiert und parfümiert, in schimmernder Wäsche, in Frack oder Uniform in den Empfangssalon oder den Ballsaal traten – ein wahres Sinnbild der Reinheit, zum Entzücken!
Bedenken Sie doch einmal, wie es eigentlich sein müßte, und wie es in Wirklichkeit ist! Es müßte so sein: wenn in einer Gesellschaft ein solcher Herr sich meiner Schwester oder Tochter nähert, so müßte ich, der ich sein Leben kenne, zu ihm hintreten, ihn auf die Seite nehmen und ihm leise ins Ohr flüstern: ›Mein Lieber, ich weiß, was für ein Leben du geführt hast, wie und mit wem du deine Nächte verbringst. Du gehörst nicht hierher. Hier sind reine, unschuldige Mädchen. Entferne dich!‹ So müßte es sein; in Wirklichkeit aber ist es so, daß, wenn ein solcher Herr auf der Bildfläche erscheint und mit meiner Schwester oder Tochter tanzt und sie an sich preßt, wir förmlich jubeln, wofern er nur reich ist und gute Verbindungen hat. Wer weiß, vielleicht macht er nach dieser oder jener berühmten Kurtisane auch meine Tochter glücklich! Und wenn selbst Spuren einer Erkrankung an ihm verblieben sind – was tut es? Heutzutage bringt die Medizin so etwas ganz leicht weg. Ja, ich kenne sogar ein paar Mädchen aus den höheren Kreisen, die von ihren Eltern bereitwilligst an Männer verheiratet wurden, denen eine gewisse Krankheit tief im Leibe saß. Oh, oh … welche Gemeinheit! Doch es kommt die Zeit, da auch diese Gemeinheit und Lüge entlarvt werden wird!«
Er ließ mehrmals seinen sonderbaren Laut hören und machte sich an seinen Tee. Der Tee war sehr stark – es war kein Wasser da, um ihn zu verdünnen. Ich spürte es, wie sehr mich die zwei Gläser erregten, die ich getrunken hatte. Auch auf ihn mußte der Tee wohl eingewirkt haben, denn er wurde immer erregter. Seine Stimme nahm immer mehr einen markanten, singenden Ausdruck an. Jeden Augenblick wechselte er seine Haltung, nahm seine Mütze ab, setzte sie wieder auf und sein Gesicht veränderte sich ganz seltsam in dem Halbdunkel, worin wir saßen.
»So also lebte ich bis zu meinem dreißigsten Jahre«, fuhr er fort, »und nicht einen Augenblick gab ich die Absicht auf, zu heiraten und ein ganz ideales, reines Familienleben zu begründen, und in dieser Absicht sah ich mich eifrig unter den jungen Mädchen um, die für mich in Betracht kommen konnten. Ich besudelte mich selbst mit dem Schmutz der Ausschweifung und schaute gleichzeitig nach jungen Mädchen