Gestalt, aber die unruhigen Finger einer seiner Hände bewegten sich wie bewußtlos nach seinen Lippen, wie er den neuen Ankömmling ansah (seine Lippen und seine Nägel waren von derselben blassen Bleifarbe), und dann sank die Hand auf die Arbeit herab, und er bückte sich wieder über den Schuh. Der Blick und die Handlung hatten nur einen Augenblick in Anspruch genommen.
„Sie haben Besuch, wie Sie sehen,“ sagte Monsieur Defarge.
„Was sagten Sie?“
„Hier ist Besuch.“
Der Schuhmacher blickte wie vorhin auf, aber ohne eine Hand von der Arbeit zu entfernen.
„Hören Sie doch!“ sagte Defarge. „Hier ist Monsieur, der einen gutgemachten Schuh zu beurtheilen versteht, wenn er einen sieht. Zeigen Sie ihm den Schuh, an dem Sie arbeiten. Nehmen Sie ihn, Monsieur.“
Mr. Lorry nahm den Schuh.
„Sagen Sie Monsieur, was für ein Schuh es ist und wie der Verfertiger heißt.“
Es folgte eine längere Pause, als gewöhnlich, ehe der Schuhmacher antwortete.
„Ich vergesse, was Sie mich gefragt haben. Was sagten Sie?“
„Ich sagte, können Sie nicht, um Monsieur zu unterrichten, näher beschreiben, was das für ein Schuh ist?“
„Es ist ein Damenschuh. Es ist ein Promenadenschuh für eine junge Dame. Er ist nach der neuesten Mode. Ich habe die Mode nie gesehen. Ich habe ein Muster in der Hand gehabt.“ Er blickte mit einer vorübergehenden, leisen Regung von Stolz nach dem Schuh hin.
„Und wie heißt der Verfertiger?“ fragte Defarge.
Jetzt, wo seine Hände von keiner Arbeit in Anspruch genommen waren, legte er die Knöchel der rechten in die Hohle der linken, und dann die Knöchel der linken in die Hohle der rechten und strich dann mit einer Hand sich den Bart und so in regelmäßiger Aufeinanderfolge weiter, ohne einen Augenblick Unterbrechung.
Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit herauszureißen, in welche er stets versank, nachdem er gesprochen hatte, war ziemlich dieselbe, wie wenn man einen sehr Schwachen aus einer Ohnmacht zu erwecken hat oder sich bemüht, in der Hoffnung, noch Etwas zu entdecken, die Seele eines rasch Sterbenden aufzuhalten.
„Fragten Sie mich nach meinem Namen?“
„Ja, freilich.“
„Einhundert und Fünf, Nordthurm.“
„Weiter Nichts?“
„Einhundert und Fünf, Nordthurm.“
Mit einem matten Ton, der kein Seufzer und kein Gestöhn war, bückte er sich wieder über seine Arbeit, bis das Schweigen abermals gebrochen ward.
„Sie sind kein gelernter Schuhmacher?“ fragte Mr. Lorry, indem er ihn mit festem Blicke ansah.
Seine hohlen Augen wendeten sich auf Defarge, als wollte er diesem die Frage übertragen; aber da keine Hülfe von dorther kam, wendeten sie sich wieder auf den Fragenden zurück, nachdem sie erst den Fußboden gesucht hatten.
„Ob ich ein gelernter Schuhmacher bin? Nein, ich war kein gelernter Schuhmacher. Ich — ich habe es hier gelernt. Ich habe es mir selbst gelehrt. Ich frug um Erlaubniß —“
Er bekam wieder seinen Anfall von Zerstreuung, der mehrere Minuten dauerte und während dessen er ganz wie vorhin mit den Händen spielte. Endlich wendeten sich seine Augen wieder langsam dem Gesichte zu, von dem sie abgeschweift waren; als sie wieder darauf ruhten, zuckte er zusammen und fing die abgebrochene Rede wieder an, ungefähr wie ein eben Aufwachender auf einen Gegenstand von voriger Nacht zurückkommt.
„Ich fragte um Erlaubniß, es mir lehren zu dürfen und ich erhielt sie nach langer Zeit und nach vielen Schwierigkeiten und ich habe seitdem fortwährend Schuhe gemacht.“
Wie er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, den man ihm abgenommen hatte, sagte Mr. Lorry zu ihm, während er ihn immer noch fest ansah:
„Monsieur Manette, können Sie sich meiner nicht entsinnen?“
Der Schuh fiel dem Gefragten aus der Hand und dieser sah dem Fragenden starr in’s Gesicht.
„Monsieur Manette;“ Mr. Lorry legte seine Hand auf Defarge’s Arm; „können Sie sich nicht auf diesen Mann besinnen? Sehen Sie ihn an. Sehen Sie mich an. Dämmert keine Erinnerung an einen alten Banquier, ein altes Geschäft, an einen alten Diener, an eine alte Zeit in Ihrem Geiste auf, Monsieur Manette?“
Wie der viele Jahre Gefangengehaltene abwechselnd mit starrem Blick Mr. Lorry und Defarge ansah, drängten sich allmälig einige lange verlöschte Zeichen eines lebhaft denkenden Verstandes auf der Mitte der Stirn durch den schwarzen Nebel, der sich auf ihn gesenkt hatte. Sie waren wiederum überwölkt, sie waren schwächer, sie verschwanden; aber sie waren dagewesen. Und genau so wiederholte sich der Ausdruck auf dem schönen jugendlichen Gesicht der Tochter, die an der Wand sich nach einer Stelle hingeschlichen, wo sie ihn erblicken konnte und von wo sie ihn jetzt ansah, anfangs die Hände nur in entsetztem Mitleid erhoben, wenn nicht gar, um ihn entfernt zu halten und sich vor dem Anblick zu bewahren; aber jetzt, nach ihm ausgestreckt und vor heißer Inbrunst zitternd, das gespensterhafte Gesicht an ihre warme junge Brust zu legen und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung wiederzugewinnen — so genau wiederholte sich der Ausdruck (obgleich in deutlicherem Gepräge) auf ihrem schönen jugendlichen Gesicht, daß es aussah, als ob er wie ein sich bewegendes Licht sich von ihm auf sie verpflanzt hätte.
Dafür umfing ihn wieder Finsterniß. Er sah die Beiden immer weniger aufmerksam an und seine Augen suchten in düsterer Zerstreuung den Fußboden und blickten in der alten Weise um sich. Endlich nahm er mit einem tiefen, langen Seufzer wieder seinen Schuh her und ging von Neuem an seine Arbeit.
„Haben Sie ihn wiedererkannt, Monsieur?“ fragte Defarge halblaut.
„Ja; für einen Augenblick. Anfangs hielt ich es für ganz hoffnungslos, aber ich habe ohne alle Frage auf einen einzigen Augenblick das Gesicht gesehen, das ich früher so gut kannte. Still! Wir wollen weiter zurücktreten. Still.“
Sie war von der Wand der Dachkammer ganz nahe an die Bank herangetreten, auf der er saß. Es lag etwas Grauenhaftes in seinem Nichtswissen von der Gestalt, die ihre Hand hätte ausstrecken und ihn berühren können, wie er sich über die Arbeit bückte.
Kein Wort ward gesprochen, kein Geräusch gemacht. Sie stand wie ein Geist neben ihm, und er bückte sich über seine Arbeit.
Endlich traf es sich zufällig, daß er das Werkzeug, das er in der Hand hatte, mit seinem Schusterkneif vertauschen mußte. Er lag auf der Seite der Bank, wo sie nicht stand. Er hatte ihn hergenommen und bückte sich eben wieder, um fortzuarbeiten, als sein Blick auf den Saum ihres Kleides fiel. Er blickte empor und sah ihr Antlitz. Die beiden Andern wollten vorspringen, aber sie winkte ihnen mit einer Bewegung ihrer Hand. Sie hatte keine Angst, daß er mit dem Messer nach ihr stoßen könnte, obgleich sie so Etwas befürchteten.
Er starrte sie mit furchterfülltem Blick an und nach einiger Zeit fingen seine Lippen an, einige Worte zu bilden, obgleich man keinen Laut hörte. Allmälig hörte man ihn im Brausen seines keuchenden und mühsamen Athmens sagen:
„Was ist das?“
Während die Thränen ihre Wangen herabströmten, drückte sie ihre beiden Hände an seine Lippen und warf ihm Küsse zu; dann legte sie dieselben auf ihrer Brust zusammen, als ob sie seinen alten, schwachen Kopf dorthin legte.
„Ihr seid nicht des Kerkermeisters Tochter?“
Sie machte eine verneinende Bewegung.
„Wer seid Ihr?“
Da sie dem Tone ihrer Stimme noch nicht genug zutraute, setzte sie sich auf die Bank neben ihn. Er wich zurück, aber sie legte die Hand auf seinen Arm. Ein seltsamer Schauer durchzuckte ihn, wie sie dies that und man sah, wie er ihn überlief; er legte das Messer sanft hin, wie er sie anstierend dasaß.
Ihr goldnes Haar, welches sie in langen